Owen Meany
erkältet
wären. Mr. Fish, der mit Abstand den längsten Text hatte, packte sich ganz dick
ein, damit er sich bei niemandem ansteckte; und jetzt wich Scrooge vor Marleys
Geist noch viel heftiger als sonst zurück.
Großmutter klagte, es sei draußen so glatt, daß sie nicht vor die [288] Tür gehen könne; sie hatte keine Angst vor
Erkältungen, doch sie fürchtete sich davor, auf dem Eis auszurutschen. »In
meinem Alter«, sagte sie mir, »genügt es, einmal hinzufallen und sich dabei
eine Hüfte zu brechen, und dann folgt ein langes, langsames Sterben – an
Lungenentzündung.« Lydia hustete und nickte, nickte und hustete, doch keine der
alten Damen teilte ihre Weisheit mit mir… warum eine
gebrochene Hüfte eine Lungenentzündung hervorrief, ganz zu schweigen ein
»langes, langsames Sterben«.
»Aber du mußt doch Owen in Dans Stück sehen«, wandte ich ein.
»Owen sehe ich oft genug«, erwiderte Großmutter.
»Mr. Fish ist auch ganz gut«, meinte ich.
»Mr. Fish sehe ich auch oft genug«, bemerkte Großmutter.
Die begeisterte Kritik, die Owen vom Gravesend
Newsletter erhielt, schien Mr. Fish in eine stille Depression zu
treiben; wenn er nach dem Abendessen zu uns in die Front Street kam, seufzte er
viel und sagte kein Wort. Und was unseren mißmutigen Postboten, Mr. Morrison,
anbelangte, so läßt sich nicht ermessen, wie sehr er unter Owens Erfolg litt. Tief
gebeugt schleppte er seinen ledernen Postsack, als trage er eine sehr viel
schwerere Bürde als nur die vielen Weihnachtsgrüße. Wie mußte er sich fühlen,
all die Exemplare des Gravesend Newsletter zu tragen,
in denen seine frühere Rolle als »nicht nur zentral, sondern fundamental«
eingestuft wurde und Owen mit dem Ruhm überschüttet wurde, den Mr. Morrison
sich selbst gewünscht haben mochte?
In der ersten Woche, sagte Dan mir, sah sich Mr. Morrison die
Aufführung nicht an. Zu seiner Überraschung waren auch Mr. und Mrs. Meany nicht
aufgetaucht.
»Lesen sie denn nicht den Newsletter ?«
fragte Dan mich.
Ich konnte mir nicht vorstellen, daß Mrs. Meany überhaupt las; ihre
Zeit wurde von wichtigeren Dingen beansprucht. Sie hatte so viel zu starren – auf Wände und in Ecken neben einem Fenster, in das verlöschende Feuer, auf die
Schneiderpuppe meiner Mutter – [289] wann sollte
Mrs. Meany da Zeit haben, eine Zeitung zu lesen? Und Mr. Meany gehörte nicht
mal zu den Männern, die den Sportteil lesen. Außerdem konnte ich mir gut
vorstellen, daß die Meanys von Owen nie etwas über die Aufführung gehört
hatten; schließlich hatte er auch nicht gewollt, daß sie etwas vom Krippenspiel
mitbekamen.
Vielleicht hatte einer der Arbeiter im Granitsteinbruch etwas über
das Stück zu Mr. Meany gesagt; vielleicht hatte der Sprengmeister oder die Frau
des Kranführers die Aufführung gesehen oder zumindest im Newsletter darüber gelesen.
»Hab gehört, Ihr Sohn ist der Star im Theater«, mochte jemand sagen.
Doch ich konnte genau hören, wie Owen es abtun würde.
»ICH HELFE DAN NUR AUS DER PATSCHE. ER HAT PROBLEME – EINER DER GEISTER SPIELT NICHT MEHR MIT. DU KENNST DOCH MORRISON, DEN FEIGEN
POSTBOTEN? NA JA, ER HATTE EBEN LAMPENFIEBER. ES IST NUR EINE NEBENROLLE – NICHT MAL MIT TEXT. ICH WÜRDE DAS STÜCK NICHT BESONDERS EMPFEHLEN – IST NICHT
SEHR GLAUBWÜRDIG. AUSSERDEM KRIEGT NIEMAND MEIN GESICHT ZU SEHEN. ICH GLAUB
NICHT, DASS ICH ÜBERHAUPT LÄNGER ALS FÜNF MINUTEN AUF DER BÜHNE BIN…«
Ich war sicher, daß Owen so reagieren würde. Ich glaubte, daß er übermäßig
stolz auf sich war – und daß er seine Eltern grob behandelte. Wir alle
durchleben eine Phase – für manche von uns dauert sie sogar ein ganzes Leben – in der wir uns unserer Eltern schämen; wir wollen sie nicht in unserer Nähe
haben, weil wir fürchten, sie könnten etwas tun oder sagen, weswegen wir uns
für sie schämen müßten. Doch Owen schien mehr als andere unter dieser Angst zu
leiden; und darum hielt er seine Eltern wohl auch auf so großem Abstand. Und
meiner Meinung nach kommandierte er seinen Vater auffällig oft herum. In einem
Alter, in dem die meisten von uns darunter litten, daß sie [290] ständig von ihren Eltern herumkommandiert wurden,
sagte Owen seinem Vater, was er zu tun habe.
In dieser Beziehung hatte ich nur wenig Mitgefühl mit Owen. Schließlich
vermißte ich meine Mutter; ich hätte mich gefreut, sie in meiner Nähe zu haben.
Da Dan nicht mein richtiger Vater war, habe ich ihm
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