Owen Meany
Gestaltung der Nachkriegswelt zu einigen. Präsident Roosevelt wollte
Indochina dem chinesischen Führer, General Tschiang Kai-schek überlassen, doch
der General kannte die Geschichte und die Tradition Vietnams ein wenig;
Tschiang Kai-schek war klar, daß die Vietnamesen keine Chinesen waren und daß
sie sich niemals einfach von den Chinesen einverleiben lassen würden. Auf
Roosevelts großzügiges Angebot – ihm Indochina zu überlassen – erwiderte
Tschiang Kai-schek: »Wir wollen es nicht.« Col. Summers macht deutlich, daß die USA dreißig Jahre – und einen Krieg, der fast 50 000
Amerikaner das Leben gekostet hat – brauchten, um selbst auf das zu kommen, was
Tschiang Kai-schek Präsident Roosevelt 1945 erklärt hat. Das muß man sich mal vorstellen!
Überrascht es da noch, daß Präsident Reagan »Entschlossenheit« im
Persischen Golf verspricht und daß seine »weiteren Pläne unklar« sind?
Bald ist das Schuljahr zu Ende; bald werden die Mädchen weg sein. Im
Sommer herrscht eine feuchte Hitze in Toronto, doch es macht mir Spaß
zuzusehen, wie die Sprinkleranlagen im St. Clair-Park das Gras feucht halten;
der Churchill-Park ist dank ihnen den ganzen Sommer über so grün wie ein
Dschungel. Und die Familie von Rev. Katherine Keeling besitzt eine Insel in der
Georgian Bay; Katherine lädt mich immer ein, sie zu besuchen – [502] für gewöhnlich bin ich jeden Sommer mindestens
einmal dort, um meinen Jahresbedarf an Bewegung in frischem Wasser und
Herumalbern mit anderer Leute Kinder zu decken. Jede Menge nasse Schwimmwesten,
jede Menge lecke Kanus und der Geruch von Kiefernnadeln und
Holzkonservierungsmitteln – schon ein wenig davon reicht eine geraume Weile für
einen verschrobenen alten Junggesellen wie mich.
Und im Sommer fahre ich auch immer nach Gravesend und besuche Dan.
Es würde ihn verletzen, wenn ich mir nicht eine seiner Theateraufführungen mit
den Teilnehmern der Sommerkurse ansähe; er versteht, warum ich die
Vorstellungen der Gravesend Players lieber nicht besuchen möchte. Mr. Fish ist
schon ziemlich alt, aber er ist noch immer bei der Schauspieltruppe; viele der
alten Laienschauspieler machen noch bei Dans Aufführungen mit, aber es ist mir
ganz recht, wenn ich sie nicht sehe. Und das Publikum, das vor über zwanzig
Jahren eine solche Faszination auf Owen und mich ausgeübt hat, möchte ich auch
nicht mehr sehen.
»IST ER HEUTE ABEND DA?« flüsterte Owen
mir dann immer zu. »SIEHST DU IHN?«
1961 suchten Owen und ich das Publikum nach diesem einen Gesicht auf
den Holzbänken ab – vielleicht ein uns vertrautes Gesicht, vielleicht auch nicht.
Wir suchten nach dem Mann, der auf das Winken meiner Mutter reagiert hatte – oder eben nicht. Es war ganz bestimmt ein Gesicht, das eine wie auch immer
geartete Reaktion zeigte – beim Anblick des Ergebnisses von Owens kräftigem
Schlag. Es war vermutlich ein Gesicht, das meine Mutter schon oft im Publikum
erspäht hatte – nicht nur bei Baseballspielen, sondern auch zwischen den
Orangenbäumen und den Aquarien mit tropischen Fischen im ›Orange Grove‹. Wir
suchten nach einem Gesicht, dem die »Lady in Red« zugesungen hatte… zumindest einmal, wenn nicht öfter.
»Siehst du ihn?« fragte ich Owen Meany.
»HEUTE NICHT«, gab er zurück. »ENTWEDER IST ER NICHT [503] HIER,
ODER ER DENKT NICHT AN DEINE MUTTER« , sagte er einesAbends.
»Was willst du damit sagen?« fragte ich ihn.
»STELL DIR MAL VOR, DAN WÜRDE EIN STÜCK ÜBER MIAMI AUFFÜHREN«, sinnierte
er. »STELL DIR MAL VOR, DIE GRAVESEND PLAYERS WÜRDEN EIN
STÜCK AUFFÜHREN, DAS IN EINEM NACHTCLUB IN MIAMI SPIELT, DER ›THE ORANGE GROVE‹
HEISST, UND DA GIBT ES EINE SÄNGERIN, ›THE LADY IN RED‹, UND SIE SINGT NUR ALTE
SINATRA-LIEDER.«
»So ein Stück gibt es aber nicht«, wandte ich ein.
»ABER STELL ES DIR DOCH MAL VOR!« entgegnete
er. »LASS DOCH MAL DEINE PHANTASIE WALTEN. GOTT KANN DIR
SAGEN, WER DEIN VATER IST, ABER DU MUSST ES AUCH GLAUBEN – DU MUSST GOTT EIN BISSCHEN HELFEN ! DENK DIR DOCH
EINFACH MAL, DASS ES SO EIN STÜCK GÄBE!«
»Na gut«, meinte ich, »ich denk es mir.«
»UND WIR WÜRDEN DAS STÜCK ENTWEDER THE ORANGE GROVE NENNEN, ODER THE LADY IN RED – DENKST DU
NICHT, DASS DEIN VATER DANN KOMMEN WÜRDE, UM SICH DAS STÜCK ANZUSEHEN? DENKST
DU NICHT, DU KÖNNTEST IHN DANN ERKENNEN?«
»Ich denke schon«, sagte ich.
Das Problem war, daß wir uns nicht trauten, Dan vom ›Orange
Grove‹ und der »Lady in Red« zu erzählen;
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