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Owen Meany

Owen Meany

Titel: Owen Meany Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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nicht mehr«, sagte ich.
    [625]  »DU SIEHST SIE
NICHT MEHR, ABER DU WEISST, DASS SIE NOCH DA IST – JA ?« meinte er
dann zu mir.
    » Natürlich ist sie noch da!«
    »BIST DU SICHER ?« bohrte er nach.
    » Natürlich bin ich sicher!« erwiderte ich.
    »ABER DU KANNST SIE NICHT SEHEN «, betonte er noch
einmal. »WOHER WEISST DU DANN, DASS SIE NOCH DA IST, WENN DU
SIE NICHT SEHEN KANNST?«
    »Weil ich weiß, daß sie noch da steht – weil ich weiß, daß sie nirgendwohin gegangen sein kann – eben weil ich es weiß !« entgegnete ich.
    Und an einem kalten Tag im Spätherbst – es war November oder Anfang
Dezember; Johnson hatte sich bei der Präsidentschaftswahl gegen Goldwater
durchgesetzt; Breschnew und Kossygin hatten Chruschtschow abgelöst; fünf
Amerikaner waren bei einer Attacke des Vietkong auf den Luftwaffenstützpunkt
Bien Hoa ums Leben gekommen – hatte ich das Spielchen, Maria Magdalena nicht zu
sehen und doch zu wissen, daß sie da war, ganz besonders satt.
    »UND DU HAST KEINEN ZWEIFEL, DASS SIE DA IST?« bohrte
er.
    » Natürlich habe ich keinen Zweifel!« sagte
ich.
    »ABER DU KANNST SIE NICHT SEHEN – DU KÖNNTEST DICH AUCH TÄUSCHEN «,
meinte er.
    »Nein, ich täusche mich nicht – sie ist
da, ich weiß, daß sie da ist!« brüllte ich ihn an.
    »DU BIST DIR ABSOLUT SICHER, DASS SIE DA IST – AUCH
WENN DU SIE NICHT SEHEN KANNST ?« fragte er mich.
    »Ja!« schrie ich.
    »SIEHST DU, GENAUSO GEHT ES MIR MIT GOTT«, sagte
Owen Meany. »ICH KANN IHN NICHT SEHEN, ABER ICH BIN MIR ABSOLUT
SICHER, DASS ER DA IST!«
    [626]  Georgian Bay, 29.   Juli 1987 – Katherine empfahl mir heute, möglichst überhaupt keine Zeitung mehr zu lesen.
Sie hat gesehen, wie mir The Globe and Mail den Tag
verdorben hat – und es ist so herrlich, so friedlich auf dieser Insel, mit all
dem Wasser ringsum; es ist wirklich ein Jammer, wenn man es hier nicht fertigbringt, richtig zu entspannen und die Gelegenheit
beim Schopf zu packen, einmal in aller Ruhe nachzudenken, seinen Gedanken
nachzuhängen. Katherine will nur mein Bestes; ich weiß, sie hat recht – ich
sollte das mit der Zeitung einfach lassen. Zeitunglesen hilft einem sowieso
nicht dabei, irgend etwas zu verstehen.
    Sollte sich jemals irgend jemand erlauben, meinen Schülerinnen an
der Bishop Strachan School Unterricht über Charles Dickens, Thomas Hardy oder
Robertson Davies auf der Grundlage ebenso seichter, oberflächlicher Kenntnisse
zu erteilen, wie ich sie von den Ereignissen der Welt – oder auch nur von den amerikanischen Verfehlungen – besitze, wäre ich empört.
Ich bin kein schlechter Englischlehrer, und so weiß ich, daß mein Verständnis
der amerikanischen Mißgriffe – selbst in Vietnam, von Nicaragua ganz zu
schweigen – seicht und oberflächlich ist. Wer bezieht schon wesentliche
sachliche Informationen aus der Zeitung ? Ich bin
sicher, daß ich über keine tiefgehenden Einsichten in die amerikanischen
Machenschaften verfüge; und doch kann ich nicht auf die neuesten Nachrichten
verzichten! Man sollte meinen, daß ich aus meinen Erfahrungen mit Eiskrem hätte
lernen können. Wenn ich eine Packung Speiseeis im Gefrierschrank habe, dann
esse ich sie – und zwar esse ich sie auf einen Schlag auf. Daraus habe ich
gelernt, besser gar kein Eis mehr zu kaufen. Zeitungen sind noch schädlicher
für mich als Eiskrem; Schlagzeilen und die großen Themen, die für Schlagzeilen
sorgen, sind für mich reines Gift.
    In der Inselbibliothek, wenn man es so nennen will, stehen jede
Menge Naturführer – über alles, wovon ich noch nie viel Ahnung [627]  hatte; ich meine Dinge, die es wirklich gibt, und
nicht bloße »Themen«. Ich könnte mich über Kiefernnadeln oder über das
Bestimmen von Vögeln informieren – für letzteres gibt es sogar eine richtige
Merkmalssystematik: Bestimmen der Vögel im Flug und am Boden, Rufe bei der
Futtersuche und Paarungsgesang. Eine faszinierende Beschäftigung – nehme ich
an. Und bei all dem Wasser ringsum könnte ich mir sicher mehr als einen Tag Zeit dafür nehmen, mit Charlie angeln zu gehen;
ich weiß, er ist enttäuscht, daß ich nicht mehr Interesse daran zeige. Und
Katherine hat mir deutlich gemacht, daß sie und ich schon lange nicht mehr über
unsere jeweiligen Glaubensgrundsätze gesprochen haben – über die gemeinsamen
und die individuell verschiedenen Elemente unseres Glaubens. Früher habe ich
mich immer stundenlang mit ihr darüber unterhalten – und vor ihr mit Canon Campbell. Jetzt schäme

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