Owen Meany
denen ich »zu
Hause« zu tun gehabt hatte.
Von den sogenannten »Deserteuren« machten sich die Leute völlig
falsche Vorstellungen; die Deserteure, die ich kennenlernte, waren politisch
eher gemäßigt. Ich bin nie auf einen gestoßen, der wirklich in Vietnam war; ich
habe nie auch nur einen getroffen, der nach Vietnam gehen sollte. Es waren
einfach junge Männer, die ihren Einberufungsbescheid bekommen hatten und den
Militärdienst haßten; ein paar von ihnen hatten sich zunächst sogar freiwillig
gemeldet. Nur wenige erzählten mir, daß sie sich davongemacht hatten, weil sie
sich jeglicher Verbindung mit diesem unerträglichen
Krieg schämten; bei einigen von denen, die diese Begründung vorbrachten, hatte
ich das Gefühl, daß sie nicht die [630] Wahrheit
sagten, daß sie lediglich vorgaben, sie seien desertiert, weil dieser Krieg
»unerträglich« war; sie hatten erkannt, daß das eine politisch akzeptable
Aussage war.
Und noch etwas wurde damals völlig falsch verstanden: entgegen der
vorherrschenden Meinung war die Auswanderung nach Kanada keineswegs eine besonders geschickte Methode, sich der Einberufung zu
entziehen; da gab es bessere und einfachere Wege – von einem werde ich noch
erzählen. Aber nach Kanada zu gehen – sei es auf der Flucht vor der Einberufung
oder als Deserteur oder auch aufgrund meiner wesentlich schwerer nachvollziehbaren
Motive – war eine eindeutige politische Aussage. Wer erinnert sich noch an
diese Zeit, als jede Handlung eine »politische Aussage« darstellte? Ich
erinnere mich noch daran, wie einer der Jungs von AMEX zu mir sagte, die Entscheidung, ins Exil zu gehen, sei »die letzte und äußerste
Form von Widerstand«. Wie recht ich ihm gab! Wie anmaßend das schien: zur
»letzten und äußersten Form von Widerstand« zu greifen.
Um die Wahrheit zu sagen: Ich mußte nie leiden. Als ich 1968 frisch
nach Toronto kam, lernte ich ein paar verstörte, orientierungslose junge
Amerikaner kennen; ich war etwas älter als die meisten von ihnen – und sie
wirkten sicher nicht unruhiger und orientierungsloser als die meisten jungen
Amerikaner, die ich zu Hause gekannt hatte. Anders als Buzzy Thurston zum
Beispiel waren sie nicht, um der Einberufung zu entgehen, mit dem Auto frontal
gegen einen Brückenkopf gerast. Anders als Harry Hoyt hatten sie sich nicht den
tödlichen Biß einer Kettenviper zugezogen, während sie darauf warteten, von
einer vietnamesischen Hure bedient zu werden.
Und zu meiner Überraschung schienen mich die Kanadier, mit denen ich
zu tun hatte, sogar zu mögen. Und mit meinem
Universitätsabschluß – sowie der während des Studiums gesammelten Lehrerfahrung
an einer so renommierten Schule wie der Gravesend Academy – war ich jemand, dem
man von Anfang an Respekt [631] entgegenbrachte
und dem man binnen kürzester Zeit eine Stelle anbot. Daß ich jeden Kanadier,
mit dem ich zu tun hatte, sofort darauf hinwies, was ich nicht war, war
vermutlich reine Zeitverschwendung; daß ich nicht auf der Flucht vor der
Einberufung oder der Militärpolizei war, spielte für die Kanadier tatsächlich
keine große Rolle. Für die Amerikaner, denen ich begegnete, spielte es eine
Rolle, und wie sie darauf reagierten, gefiel mir nicht besonders: daß ich aus
freien Stücken und nicht als Flüchtling in Kanada war und daß ich nicht gezwungen war, in Toronto zu leben – das verlieh aus
meiner Sicht meiner Haltung größere Glaubwürdigkeit; doch aus ihrer Sicht war
ich in einer weniger verzweifelten Lage und, aus diesem Grund, auch weniger glaubwürdig. Es ist wahr: Wir Wheelwrights haben
selten gelitten. Und anders als die meisten anderen Amerikaner hatte ich hier
die Kirche; die Kirche sollte man nicht unterschätzen – ihre heilende Wirkung
und die tröstende Art, auf die sie einen über alles erhebt.
In der ersten Woche in Toronto hatte ich ein Vorstellungsgespräch am
Upper Canada College; dieses Institut gab mir das Gefühl, die Gravesend Academy
niemals verlassen zu haben! Es gab da keine freie Stelle für einen
Englischlehrer, doch man versicherte mir, ich würde, da mein Lebenslauf ja so
hervorragend aussehe, bestimmt ohne große Schwierigkeiten eine Stelle bekommen.
Man war sogar so nett, mich ein kurzes Stück die Lonsdale Street hinab zur
Grace Church on-the-Hill zu schicken; Canon Campbell, wurde mir erklärt,
versuche Amerikanern nach Kräften zu helfen.
Das tat er wirklich. Als mich der Canon fragte, welcher Kirche ich
angehörte, sagte ich: »Wohl zu
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