Owen Meany
hergeschoben, als kämen sich die Frauen aus Korinth und die aus Troja
an Schrillheit völlig gleich. Ich war recht angetan von dem armen Mädchen, das
Dan als Hekabe eingesetzt hatte; abgesehen von der sorgenbeladenen Rolle mußte
sie die ganzen Troerinnen über auf der Bühne bleiben.
Dafür verschaffte Dan ihr in Medea etwas Ruhe; da gab
er ihr eine besonders mitleiderregende, aber weitgehend stumme Rolle im Chor
der Korintherinnen – nur am Schluß stellte er sie doch in den Vordergrund; sie
gehörte ganz eindeutig zu den Besseren unter den Schauspielerinnen, die ihm zur
Verfügung standen, und Dan war [718] so klug, die
letzten Verse des Chors dadurch hervorzuheben, daß er sie von diesem Mädchen
allein sprechen ließ.
»›Viel wirkt unverhofft der Unsterblichen Rat‹«, sagte das traurige
Mädchen. »›Und was du gewähnt, vollendet sich nicht; Unerwartetes kommt, von
der Gottheit gesandt.‹«
Wie wahr. Nicht einmal Owen Meany würde da widersprechen.
Manchmal beneide ich Dan um seine Fähigkeit, auf
der Bühne zu lehren; denn das Theater betont, hebt hervor – vor allem
für junge Menschen, die über keine große Lebenserfahrung verfügen, mit deren
Hilfe sie die Erwartungen einordnen könnten, denen sie in der Literatur
begegnen; und die zudem kein großes Vertrauen in die Sprache besitzen, weder
dann, wenn sie sie selbst benutzen, noch wenn sie sie anhören. Im Theater,
behauptet Dan ganz zu Recht, kommt das zum Ausdruck, was jungen Menschen – wie
unseren Schülern – fehlt, nämlich Lebenserfahrung und Vertrauen in die Sprache.
Schüler der Altersgruppe, zu der die von Dan und mir gehören, haben zum
Beispiel kein großartiges Gespür für Sprachwitz; der
existiert für sie überhaupt nicht, oder sie halten ihn für eine antiquierte
Form von Snobismus, ein bloßes Angeben mit sprachlichen Mitteln, die sie (wenn
überhaupt) nur sehr zögerlich verwenden. Sprachwitz ist nicht zögerlich;
deshalb ist er auch nichts Jugendliches. Sprachwitz ist einer von vielen
Aspekten des Lebens und der Literatur, der auf der Bühne viel leichter zu
erkennen ist als in einem Buch. Meinen Schülern entgeht er in ihrer Lektüre
immerzu, oder sie trauen ihm nicht; auf der Bühne kann selbst ein
Laienschauspieler für jedermann sichtbar machen, was
Sprachwitz ist.
Der August ist für mich der Monat, in dem ich mit Dan über unsere
Arbeit als Lehrer rede. Wenn wir uns an Weihnachten treffen, oder wenn wir
zusammen nach Sawyer Depot fahren, gibt es immer viel zu tun, und es sind
andauernd noch andere Leute um uns. Im August dagegen sind wir oft allein;
sobald die [719] Theatersommerkurse vorbei sind,
machen Dan und ich zusammen Ferien – was allerdings für gewöhnlich bedeutet,
daß wir in Gravesend bleiben und unsere Unternehmungen über wenig
abenteuerliche Tagesausflüge an den Strand bei Little Boar’s Head nicht
hinausgehen. Die Abende verbringen wir in unserem Haus in der Front Street und
reden miteinander; seit Dan hier eingezogen ist, gibt es keinen Fernseher mehr.
Als Großmutter ins Seniorenwohnheim zog, hat sie ihr Fernsehgerät mitgenommen;
als sie starb, hat sie das Haus Dan und mir hinterlassen.
Es ist ein großes, einsames Haus für einen Mann, der nie auch nur
mit dem Gedanken gespielt hat, wieder zu heiraten; aber es birgt für Dan fast
ebensoviel an Geschichte wie für mich. Obwohl ich gerne hierherkomme, konnten
mich nicht einmal die vielen mit diesem Haus verbundenen nostalgischen
Erinnerungen dazu bewegen, für immer in die Vereinigten Staaten zurückzukehren.
Dies – meine Rückkehr – ist ein Thema, das Dan in jedem August erneut
anschneidet, und zwar immer an einem Abend, an dem ihm klar ist, daß mir die
Atmosphäre unseres alten Hauses und seine Freundschaft wohltut.
»Hier ist mehr als genug Platz für zwei alte Junggesellen wie uns«,
sagt er dann immer. »Und mit deiner beruflichen Erfahrung an der Bishop
Strachan School – ganz abgesehen von dem Empfehlungsschreiben, das dir deine
Schulleiterin ganz sicher mitgeben würde, und davon, daß du ein angesehener
Ehemaliger bist – würde die englische Abteilung der Gravesend Academy dich
natürlich mit offenen Armen aufnehmen. Du brauchst nur einen Ton zu sagen.«
Nicht aus Höflichkeit, sondern aus Freundschaft zu Dan gehe ich nie
auf dieses Thema ein.
Als er in diesem August wieder damit anfing, sagte ich einfach: »Wie
schwierig ist es doch, Teenagern Sprachwitz zu vermitteln – ohne den Schauplatz
der Bühne. Es treibt mich
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