Owen Meany
schier zur Verzweiflung, daß mir schon wieder ein
Herbst bevorsteht, in dem [720] ich alles
daransetzen muß, die Aufmerksamkeit meiner Mittelstufenschülerinnen in Emily
Brontës Sturmhöhe auf Aspekte zu lenken, die über die
Liebesgeschichte zwischen Catherine und Heathcliff hinausgehen – denn die ist
alles, wofür sie sich interessieren, bis ins kleinste Detail!«
»Mein lieber John«, meinte Dan Needham. »Er ist nun schon zwanzig
Jahre tot. Hör auf damit. Verzeih und vergiß – und komm zurück nach Haus.«
»Gleich zu Beginn gibt es eine Stelle – die überlesen sie jedes
Jahr!« fuhr ich fort. »Ich meine die Stelle, an der Lockwood den Diener Joseph
beschreibt, auf die hab ich sie schon so oft hingewiesen, daß ich sie auswendig
kann: ›Dabei schaute er mich so verdrossen an, daß ich mir barmherzigerweise
einredete, er vermöge sein Mittagsmahl nur unter göttlichem Beistand zu
verdauen…‹ Ich hab ihnen das schon laut vorgelesen, aber es rauscht an ihnen
vorbei – lockt nicht einmal die Spur eines Lächelns auf ihre Lippen! Und nicht
nur Emily Brontës Sprachwitz rauscht an ihnen vorbei. Auch in zeitgenössischer
Literatur bemerken sie ihn nicht. Ist Mordecai Richler zu geistreich für
Mittelstufenschülerinnen? Es sieht fast so aus. O ja, sie finden The Apprenticeship of Duddy Kravitz durchaus ›lustig‹;
aber die Hälfte des Humors kriegen sie gar nicht mit! Kennst du die
Beschreibung des Urlaubsorts für Juden aus der Mittelschicht? Was ihnen
entgeht, sind immer die Beschreibungen; ich bin
sicher, die halten sie einfach für unwichtig. Sie wollen Dialoge, sie wollen
Handlung; aber gerade in den Beschreibungen steckt so viel von der
schriftstellerischen Leistung! ›Es gab noch vereinzelten nichtjüdischen
Widerstand, das ist wahr. In keinem der beiden Hotels, die sich noch im Besitz
von Nichtjuden befanden, wurden Juden zugelassen, aber das wirkte wie das
Nachklingen der britischen Herrschaft über Indien an der Malabarküste,
eigentlich nicht beunruhigend, sondern eher wie eine rührende Trotzreaktion.‹
Jedes Jahr beobachte ich ihre Gesichter, wenn ich
ihnen das vorlese – sie verziehen keine Miene!«
[721] »John«, meinte Dan. »Laß das
Wühlen in der Vergangenheit – nicht einmal Owen wäre heute
noch böse. Meinst du, Owen Meany hätte dem ganzen Land die Schuld an dem
gegeben, was ihm zugestoßen ist? Das war Wahnsinn; das hier ist ebenfalls
Wahnsinn.«
»Wie lehrst du Wahnsinn auf der Bühne?« fragte ich Dan. » Hamlet, denke ich, für den Anfang – ich drücke meinen
Mädchen in der Abschlußklasse Hamlet in die Hand,
aber es muß reichen, daß sie ihn lesen; zu sehen bekommen sie ihn nicht. Und Schuld und Sühne, selbst in der Abschlußklasse haben sie
mit dem sogenannten ›psychologischen Roman‹ ihre liebe Mühe. Raskolnikows
Erbärmlichkeit erfassen sie noch, aber sie sehen nicht, wie sogar in den
einfachsten Beschreibungen Dostojewskijs psychologisches Konzept zum Tragen
kommt; auch hier entgehen ihnen die Beschreibungen. Vom Wirt einer Schenke, zum
Beispiel, wird gesagt: ›sein kleines Gesicht schien, gleich einem eisernen
Schlosse, mit Öl eingefettet zu sein‹. Was für ein herrliches Gesicht für einen
Schenkenwirt! ›Ist das nicht wunderbar beschrieben?‹ frage ich die Klasse; sie
starren mich an, als hielten sie mich für noch verrückter als Raskolnikow.«
Dan Needham starrt mich, gelegentlich, genauso an. Wie konnte er nur
meinen, ich könne »verzeihen und vergessen«? Es wird allenthalben zuviel
vergessen. Wenn wir Lehrer den fehlenden Sinn für Geschichte bei unseren
Schülern beklagen, sorgen wir uns dann nicht darum, was die Menschen alles
vergessen? Jahrelang habe ich die Frage, wer als mein Vater in Frage kam, zu
vergessen versucht; ich wollte, wie Owen immer betonte, gar nicht herausfinden,
wer es war. Wie oft habe ich zum Beispiel Mutters alten Gesangslehrer Graham
McSwiney angerufen? Wie oft habe ich ihn angerufen und gefragt, ob er
herausgefunden hat, wo sich Buster Freebody aufhielt, oder ob er sich an irgend
etwas im Zusammenhang mit meiner Mutter erinnert, das er Owen und mir nicht
erzählt hatte? Nur einmal; ein einziges Mal habe ich ihn [722] angerufen. Graham McSwiney meinte, ich solle
aufhören, meinen Vater zu suchen; ich war dazu nur allzu bereit.
Mr. McSwiney sagte: »Buster Freebody – wenn er noch lebt und Sie ihn
finden – ist so alt, daß er sich wohl kaum mehr an Ihre Mutter erinnert – und
schon überhaupt nicht
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