P. S. Ich töte dich
Überschuss, der etwas von ihrem innersten Wesen verrät. Denn meist ist diese überschüssige Kraft zu nichts anderem gut, als die Stange mit den Gewichten im Schlafzimmer in die Höhe zu stemmen und langsam, ganz langsam wieder auf ihren Ständer sinken zu lassen. Auch der Brustkorb ist natürlich athletisch, und ich gebe zu, dass ich mich nicht scheue, eng sitzende Unterhemden zu tragen oder sie gar von mir zu werfen, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet. Eine Zeitlang bin ich in der Mitte ein wenig auseinandergegangen, doch jetzt ist davon kaum noch was zurückgeblieben. Mein Blick gleitet über den mittlerweile flachen Bauch, dessen Muskeln deutlich hervortreten, wenn ich ihn anspanne, bevor ich mich dem Höhepunkt nähere. Plötzlich kenne ich sie: die Methode. Die Gewissheit kommt aus dem Bauch. Ich schließe die Augen und sehe sie vor mir. Der Ort hat noch keine Konturen und die Person, über die ich mich beuge, kein Gesicht. Doch sehe ich die Methode in ihrer reinen Form, eine Bewegung, perfekt ausgeführt, und als ich die Augen erneut öffne, bemerke ich zu meiner Überraschung eine weitere Paradoxie der Natur: Die fünfte Extremität, die meiner Übung bisher in schlaff hängender Haltung, ein Nerz ohne Fell, beigewohnt hat, setzt sich nun, vollkommen unerwartet, in Bewegung, erhebt sich und blickt sich selbst im Spiegel an. Ich werde jemanden töten.
◊
Jemand war hier. Dieser Gedanke durchfuhr sie in der Sekunde, in der sie die Tür hinter sich schloss. Sie ließ den Finger auf beiden Seiten über den Türrahmen gleiten, fand jedoch keine Anzeichen dafür, dass die Tür aufgebrochen worden war. Dennoch war sie ganz sicher. Sie blieb auf dem Flur stehen, fingerte das Handy aus ihrer Tasche, fand die Nummer, die sie letztes Mal angerufen hatte.
»Kriminalpolizei«, hörte sie eine Frauenstimme. Es war eine andere Stimme als vor zwei Tagen.
»Ich rufe an, weil ich einen Einbruch melden möchte.«
Plötzlich kamen ihr Zweifel. Vorsichtig betrat sie das Wohnzimmer, knipste das Licht an, schaute sich um. Sie konnte keine Veränderungen entdecken.
»Name und Geburtsnummer«, sagte die Frauenstimme, die weder freundlich noch unfreundlich klang.
Sie gab Namen und Adresse an, hörte, wie am anderen Ende getippt wurde.
»Sie haben in dieser Woche schon zweimal angerufen.«
Ja, das musste sie einräumen.
»Beide Male haben Sie einen Einbruch gemeldet, konnten aber nicht angeben, ob irgendetwas gestohlen wurde.«
Auch das war richtig.
»Haben Sie diesmal genau nachgeschaut?«
»Nein«, antwortete sie mit matter Stimme. »Noch nicht.«
»Dann schlage ich Ihnen vor, dass Sie jetzt einen gründlichen Rundgang durch alle Räume machen. Wenn Sie entdecken, dass etwas fehlt, dann rufen Sie uns morgen tagsüber an. Wenn nicht …«
Sie konnte hören, was ungesagt blieb:
Gehen Sie zum ärztlichen Notdienst.
Oder:
Schaffen Sie sich einen Psychologen an.
Oder:
Hören Sie auf, uns unsere wertvolle Zeit zu stehlen. Es gibt genug Leute, die unsere Hilfe wirklich brauchen.
In diesem Moment wusste sie, was es war. Die Heizung im Flur war eingeschaltet. Sie eilte hinaus.
»Die Elektroheizung im Flur war eingeschaltet, als ich nach Hause kam«, sagte sie rasch. »Aber ich stelle sie immer ab, wenn ich aus dem Haus gehe.«
Sie überprüfte es drei-, vielleicht sogar viermal, ehe sie die Wohnung verließ. Weder die Heizung noch irgendwelche Elektrogeräte durften eingeschaltet bleiben. Lieber in eine eiskalte Wohnung zurückkehren als irgendein Risiko eingehen.
Die Frauenstimme klang irritiert: »Letztes Mal war es das Licht im Bad. Sie müssen aufhören, uns anzurufen, verstehen Sie?«
Danach blieb sie auf der Sofakante sitzen, ohne sich den Mantel auszuziehen.
Irgendjemand anrufen
, dachte sie. Es war zehn Minuten nach Mitternacht. Sie hatte drei Freundinnen. Zwei von ihnen waren es langsam leid. Das spürte sie, obwohl sie nichts sagten. Die dritte war im Urlaub. Vermutlich war sie es ebenfalls leid, jedenfalls hatte sie gesagt, sie könnten sich nicht mehr so häufig sehen, wenn sie zurück sei. Andere? Sie hatte einen Ex-Mann, den sie seit über drei Jahren nicht gesehen hatte und den sie in den nächsten zehn Jahren auch nicht sehen wollte. Sie hatte einen pflegebedürftigen Vater, der 1440 Kilometer entfernt wohnte und aufgehört hatte zu fragen, ob sie an Weihnachten nach Hause komme.
Sie zog den Vorhang im Schlafzimmer zu, zog sich aus, hängte ihr kurzes Kleid in den Schrank und warf ihren Slip auf das
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