P. S. Ich töte dich
Grad weniger, und es würde schneien. Weiße Weihnachten, so hieß es, seien durchaus möglich. Alle wünschten sich Frost. Sie hasste Schnee, sie hasste es zu frieren. Das nahm ihr jede Kraft. Und dieser Gedanke ließ ihr keine Ruhe, dass es so sein würde zu sterben, dass die Kälte allmählich in ihren Körper eindrang, Millimeter für Millimeter.
Er stand unter der Markise und schaute sie an. Er trug eine Jeansjacke und vergrub die Hände in den Taschen seiner grauen Trainingshose. Sie war nicht überrascht. ›Der hat bestimmt nicht geduscht‹, war das Erste, das ihr durch den Kopf ging, als sie ihn sah.
»Willst du nach Hause, Ri-na?«, gurrte er. »Soll ich dich mitnehmen?«
»Nein danke.« Sie begann in Richtung der Brücke zu gehen.
Natürlich folgte er ihr. »Mein Auto steht gleich um die Ecke.«
Sie blieb stehen. »Ich kenne dich nicht. Lass mich in Ruhe.«
Er kam einen Schritt näher. Da hörte sie hinter sich eine Stimme: »Da bist du ja! Warum trödelst du so, verdammt, wir haben es eilig!«
Sie drehte sich um. Vor ihr stand eine hohe Gestalt. Sie hatte zu ihr gesprochen. »Komm, wir gehen!«
Ohne sich zu besinnen, setzte sie sich gemeinsam mit dem Mann in Bewegung, mehr erleichtert, den Polen los zu sein, als verwirrt.
»Hab keine Angst«, sagte er. »Wenn wir zur Brücke kommen, gehen wir getrennt weiter.« Er öffnete einen Regenschirm. »Ich wollte dir nur helfen, diesen lästigen Typ loszuwerden.«
Sie schaute ihn an. Er trug eine Basecap und eine Uniformjacke mit Securitas-Logo.
»Woher wusstest du, dass er mich verfolgt?«
»Das war nicht schwer zu verstehen. Der sah aus wie ein Jagdhund, der Witterung aufgenommen hat.«
Sie schüttelte sich. »Und du bist so ein Typ, der einsamen Frauen in Not hilft?«
Er lachte kurz. »Worauf du dich verlassen kannst.«
Es schneite jetzt in kleinen Flocken. Er hielt den Schirm über ihren Kopf. Zögernd trat sie ganz darunter.
»Auf der anderen Seite ist ein Café«, sagte er, als sie die Brücke erreichten. »Ich darf zwar nicht mehrere Stunden lang Pause machen, aber wenn du versprichst, mich nicht zu verraten …«
◊
Sie setzte ihre Tasse etwas zu hart ab, der Kaffee schwappte auf die Untertasse.
»Bist du eine Art Wachmann?«, fragte sie. Angesichts seiner Uniform klang die Frage ein wenig naiv.
»Schon möglich, Rina«, antwortete er grinsend. »Kann aber auch sein, dass ich die Jacke nur anziehe, um den Frauen zu imponieren.«
Sie zuckte zusammen. »Woher weißt du, wie ich heiße?«
Er streckte seine langen Beine neben den Tisch und betrachtete sie. »Hab gehört, dass der Penner von vorhin dich so genannt hat.«
Sie akzeptierte die Erklärung und verdrängte den Gedanken, dass er womöglich mehr über sie wusste, als ihr lieb war. Doch er hatte etwas an sich, das ihr nicht gefiel, er wirkte eher rechthaberisch als selbstbewusst. Seine Basecap trug er immer noch. Vielleicht hatte er nur noch wenige Haare und schämte sich deswegen. Sie hatte drei Freundinnen, jedenfalls war das ihre eigene Bezeichnung, obwohl sie diese schon länger nicht mehr gesehen hatte. Sie waren sich einig darin, dass sie Männern gegenüber viel zu kritisch war, dass sie jedes Mal Reißaus nahm, ehe diese zeigen konnten, ob sie etwas taugten.
»Du wohnst noch nicht lange hier«, stellte er fest.
»Woher weißt du denn das schon wieder?«
»Einfach geraten. Ich bin gut im Raten. Ich sehe dir an, dass du dich in dieser Stadt noch nicht richtig zu Hause fühlst.«
Sie stand auf einer Wippe. Konnte auf die eine Seite fallen, sich zurückziehen und wieder verschwinden, ohne das Geringste zu riskieren. Oder sie konnte dieses eine Mal auf die andere Seite springen und alle Bedenken gegen einen Kerl wie ihn beiseiteschieben. Dass er glaubte, sie zu kennen, sich einbildete, sie würde sofort auf ihn fliegen, dass er seine lächerliche Basecap nicht abnahm, dass er zu stark nach irgendetwas roch, das sie nicht kannte, dass er eigentlich kindisch und unsicher war. Sie schaute aus dem Fenster, der Schneefall war dichter geworden. Sie fasste einen Entschluss.
»Du hast recht. Mir gefällt es hier nicht.«
Sie hörte, dass ihre Worte etwas hinter sich herzogen. Sie waren wie das Ende eines Wollknäuels. Wenn sie weiter am Faden zog, würde sie etwas in Bewegung setzen.
»Du sehnst dich bestimmt nach Wärme«, sagte er und nickte. »Aber das erlaubst du dir nicht. Oder du traust dich nicht.«
Sie riss die Augen auf. Immer noch saß er zurückgelehnt auf seinem
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