P. S. Ich töte dich
fokussierte den Blick. Doch da war keine Tür. Da war ein flackernder Schein. Gelb. Orange. Er kniff die Augen etwas zusammen, hielt den Atem an.
Funken stoben in ein kaltes Blau.
Ich werde verrückt!, schoss es ihm durch den Kopf.
Rauh lachte er auf, starrte zu der Szene, zitterte noch immer wie ein verlassener kleiner Junge. Die Gestalt, die eben reglos verharrt hatte, wandte sich ihm träge zu. Das Feuer malte zuckende Schatten auf ihr Gesicht.
Nein, er hatte keinen Autounfall gehabt!
Rauch wehte herüber. Das Feuer knisterte gleichmäßig.
Er würde sterben.
◊
Simon Wolf rieb seine Hände über den Flammen. Nicht weil er fror. Es war eher ein Reflex, maximal der Ausdruck einer Gewissheit. Aber nicht das Bedürfnis nach Wärme. Simon Wolf fror schon lange nicht mehr.
Wortlos erhob er sich von dem großen Stein und trat einige Meter vom Feuer weg neben den Mann, der im Schnee lag. Wie erbärmlich er sich zu seinen Füßen wand. Ihn überrascht ansah, während seine Augen immer wieder wegglitten. Wie jämmerlich er gezittert hatte in den langen Nachmittagsstunden. Erwacht war, wieder weggedämmert. Wie er jetzt winselte. Zuckte.
Wolf wandte sich ab und legte den Kopf in den Nacken. Kleine Wölkchen bildeten sich vor seinem Mund. Der Dezemberhimmel lag sternenklar. Sein Blau changierte in dem kühlen Tag-Nacht-Zwielicht, und eben schob sich die blasse Mondsichel über die Silhouetten der Berggipfel. Silbern ergoss sich ihr Licht über den zugefrorenen Eissee, der sich entlang des Tals erstreckte.
Dort, an seinem Ufer, hatten sie gegen Mittag das Feuer entzündet. Am Saum des braunen Schilfs, in dem sich jetzt scharf der Wind brach und in Wolfs Pläne einzustimmen schien.
Eine Bö peitschte ihm Schneekristalle ins Gesicht.
Früher hatte er den Sturm geliebt. Im Winter die Naturgewalten gespürt und im Sommer den Duft von Bergkräutern und Freiheit geatmet. Dem Leben vertraut. Jetzt dachte er lediglich, dass es eine gute Entscheidung gewesen war, hierherzukommen. Minus fünfzehn Grad Celsius bis Mitternacht. Neumond. Eine Stunde Fußmarsch bis zum nächsten Gehöft. Kein Mensch würde sie stören.
Er war beinahe am Ziel.
»Was … wo …?« Der Schnee schluckte das Stammeln des Mannes.
Simon Wolf betrachtete ihn. Die langen Haare klebten wirr in seinem schmalen Gesicht, und der Ohrring glitzerte. Aus dem Anorakkragen schob sich der Schmetterling über seinen bleichen Hals. Ein Flügel strich über die unrasierte Wange. Wolf hatte die Tätowierung schon immer grotesk gefunden.
»Old …timer?« Der Mann würgte und erbrach sich neben Wolfs schwere Stiefel in den Schnee. »Hilf mir!«, wisperte er.
Gleichgültig zog Wolf eine Schachtel Roth-Händle aus der Jacke und ließ das Feuerzeug klicken. Die Zigarette glühte auf, und er beobachtete den Rauch, der sich in verschlungenen kleinen Kringeln in der Dämmerung verlor.
»Schmerzen!«, stöhnte der Mann. »Diese Scheiß …kälte. Bitte … hilf mir!«
Wolf aschte neben ihn.
»Bitte!«, flehte der Mann. »Ich kann … mich kaum rühren!«
Wolf inhalierte tief. »Wie schmeckt der Tod, Rick?«
»Was … was soll das?«
Ein Windstoß riss an Wolfs Daunenjacke. Wind war hervorragend. Er würde die Sache beschleunigen. Wolf schätzte die aktuelle Temperatur bereits auf minus fünf Grad.
»Bitte, Oldtimer!« Ricks rechter Arm ruderte kurz durch die Luft. »Wir können … über alles reden!« Er röchelte, und seine Stimme wurde mit jedem Wort leiser. »Aber hilf mir! Ich bin ein … verdammter … Eisklotz!«
»Das warst du schon immer.« Wolfs Stiefel knirschten im Schnee, als er um Rick herumging.
»Lass mich leben!«
»Leben«, echote Wolf.
Was bedeutete schon Leben? Als er noch eines gehabt hatte, war es das vollkommene Glück für ihn gewesen. Regelmäßiges Einkommen, Häuschen mit kleinem Vorgarten, Freunde. An den Wochenenden war er wandern gegangen, hatte im Spätherbst Tannenreisig um die Rosen gebettet und die Bergastern mit Kalkerde versorgt. Und nie war er einsam gewesen.
»Oldtimer?«, stöhnte Rick kaum hörbar, hob leicht seinen Oberkörper und fiel zurück. Ein schmales Rinnsal schimmerte auf seiner rechten Wange. »Lass mich nicht … so enden.«
Wolf schnippte die Zigarette in den Schnee. »Hat sie auch so erbärmlich gebettelt wie du?«
Er mochte sich ihre Tortur nicht vorstellen. Was sie durchlitten haben musste, war das Einzige, was Wolf emotional noch anzurühren vermochte. Nachts. Dann, wenn die Träume zu
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