P. S. Ich töte dich
›The Sweet Spot‹ und dann ›Auld Lang Syne‹ gespielt.«
»Ich habe auch noch auf Aufforderung eines jungen Mannes in der ersten Reihe den ›Tennessee Waltz‹ gespielt. Er hatte beide Beine verloren und hat mich trotzdem gebeten, diesen Walzer zu spielen.«
Bosch nickte feierlich.
»Bob Hope hat Witze erzählt, und Connie Stevens sang ›Promises, Promises‹. A cappella. In weniger als einer Stunde war alles vorbei, und der Hubschrauber hob wieder ab. Ich kann es nicht erklären, aber das bedeutete wirklich etwas. Es veränderte etwas in dieser vollkommen kaputten Welt, wissen Sie. Ich war damals erst neunzehn und wusste nicht mal, warum ich überhaupt dort drüben war oder wie ich dorthin gekommen war …
Jedenfalls habe ich seither immer Saxophon gehört, aber schöner hat es nie wieder jemand gespielt.«
Bosch richtete sich auf und nickte. Sein Knie knackte laut. Er vermutete, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis er sich ebenfalls in einem dieser Heime wiederfand. Wenn er Glück hatte.
»Das wollte ich Ihnen nur erzählen«, sagte er. »Das ist alles.«
»Sie waren dort drüben in diesen Tunneln, oder? Ich habe davon gehört.«
Bosch nickte.
»Wir hätten Sie auf der Jagd nach diesem Bin Laden gebrauchen können.«
Er deutete auf den Fernseher, als hielte sich der Terrorist darin auf.
Bosch schüttelte den Kopf.
»Nein, jetzt ist alles anders. Damals haben sie dir eine Taschenlampe in die Hand gedrückt und einen Revolver und dir viel Glück gewünscht. Dann haben sie dich an einem Tunneleingang abgesetzt. Jetzt gibt es hochempfindliche Mikrofone und Bewegungsmelder, Wärmekameras und Nachtsichtgeräte … es ist alles ganz anders.«
»Vielleicht. Aber ein Jäger ist immer noch ein Jäger.«
Bosch sah ihn einen Augenblick lang an und sagte dann:
»Alles Gute, Sugar Ray.«
Er ging auf die Tür zu. Wieder hielt Sugar Ray ihn auf.
»He, Weihnachtsmann.«
Bosch drehte sich zu ihm um.
»Sie kommen mir wie ein Mann vor, der allein auf der Welt ist«, sagte Sugar Ray, »stimmt das?«
Bosch nickte, ohne zu zögern.
»Meistens.«
»Haben Sie schon Pläne für das Weihnachtsessen morgen?«
Bosch zögerte. Schließlich schüttelte er den Kopf.
»Keine Pläne.«
»Dann kommen Sie doch morgen um drei wieder her. Es gibt ein Essen, und ich darf einen Gast mitbringen. Ich melde Sie an.«
Bosch zögerte. Er war in den vergangenen Jahren an Weihnachten so oft allein gewesen, dass er fast schon befürchtete, es sei für alles zu spät, und dass es unerträglich sein würde, Gesellschaft zu haben.
»Keine Sorge«, sagte Sugar Ray. »Sie werden Ihnen Ihren Truthahn schon nicht pürieren, Sie haben ja noch Zähne.«
Bosch lächelte.
»In Ordnung, Sugar Ray, ich komme.«
»Bis dann.«
Bosch ging den Korridor mit der vergilbten Tapete entlang und in die Nacht hinaus. Als er zu seinem Wagen kam, hörte er ein Weihnachtslied aus einem offenen Fenster. Instrumental, langsam, viel Saxophon. Er blieb stehen, es dauerte einen Augenblick, bis er die Melodie erkannte. Es war »I’ll Be Home for Christmas«. Er blieb auf dem Bürgersteig stehen und hörte zu, bis das Lied zu Ende war.
Aus dem amerikanischen Englisch von
Lotta Rüegger und Holger Wolandt
Ein ehrenwertes Haus
Markus Heitz
»Oh Mann, sind denn in diesem Haus hier wirklich alle völlig durchgeknallt?
Jeder versteckt sich hinter seiner Tür, man traut sich nicht, ob jung, ob alt.
Die Leute, die hier wohnen, sehen alle ganz gewöhnlich aus.
Was hier geschieht, halt ich im Kopf nicht aus, in diesem ehrenwerten Haus.«
Udo Jürgens, Ein ehrenwertes Haus, Version aus dem Jahr 2000
16. Dezember, Homburg/Saar
»… und im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, erkläre ich aus freiem Willen und ohne Zwang, dass ich …« Mit monotoner Stimme verlas der Notar das Testament von Sabine Becker-Heisel, 39 Jahre, wohnhaft bis zu ihrem letzten Atemzug in der Lagerstraße.
Normale Angehörige würden sich darüber aufregen und ihn auf seine Pietätlosigkeit ansprechen, weniger Mutige würden sich räuspern oder wegen der professionellen Teilnahmslosigkeit in lautes Weinen ausbrechen.
Nicht so Thomas Heisel, 42 Jahre alt und vier Jahre lang ihr Ehemann.
Gewesen.
Er saß da und hörte einfach nicht zu, in der Rechten eine Tasse Kaffee, von dem er gelegentlich nippte. Er wusste, was er bekommen würde: alles.
Thomas erfüllte seine Pflicht, mehr nicht. Für die Öffentlichkeit, für die Verwandtschaft und für die Polizei. Er musste sich
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