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P. S. Ich töte dich

Titel: P. S. Ich töte dich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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die Regeln! Ich darf nicht verraten, was ich mir gewünscht habe, sonst geht der Wunsch nicht in Erfüllung.
    ◊
    Es war Alison, die mir zum ersten Mal erzählt hat, dass man Wimpern für Wünsche einsetzen kann. Ich hatte noch nie davon gehört – Sternschnuppen, klar, aber doch nicht Wimpern!
    Das muss so etwa im dritten Studienjahr gewesen sein, kurz nachdem wir zum ersten Mal ausgegangen waren. Wir verbrachten unsere Zeit größtenteils in ihrem Zimmer in Ebberston Terrace, dicht aneinandergedrängt auf ihrem schmalen Bett. Alison teilte die Wohnung mit vier anderen Mädchen, und, glauben Sie mir, man hätte Hunderte von Wimpern auf dem Wohnzimmerboden verlieren können, ohne dass es aufgefallen wäre – zwischen all den Hinterlassenschaften zahlreicher Partys und den üblichen Fast-Food-Resten. Alisons Zimmer sah ordentlicher aus, aber auch hier gab es noch genügend dunkle Ecken und schmutzige Winkel, in denen sich ein paar Wimpern verstecken konnten. Eines Morgens fügte Alison eine von mir hinzu.
    »Halt still.«
    Plötzlich spürte ich einen Finger an meinem Auge.
    Das kam bei ihr häufig vor, dieses Aufdrehen von null auf hundert, und mir gefiel es. Sie war herrlich unkontrolliert und ungezügelt. Sie sah etwas und steuerte direkt darauf zu, ohne daran zu denken, welchen Eindruck das machen könnte. Wenn sie sich mit jemandem unterhielt, war es das Gleiche: Sie ging munter drauflos, während sich der andere noch fürchtete, den ersten Schritt zu machen. Aus meiner Erfahrung kann ich sagen, dass die meisten Leute dieser Art ständig für Irritationen sorgen, doch Alison gelang es fast immer, die richtigen Worte zu finden – das, was die anderen auch sagen würden, wenn sie sich nur getraut hätten –, und so war sie trotzdem überall beliebt. Sehr seltsam, dass sie sich ausgerechnet in mich verliebt hat, aber heißt es nicht: Gegensätze ziehen sich an? Und sie war außerdem noch wunderschön – ein weiterer gravierender Unterschied zwischen uns.
    »Was machst du da, verdammt noch mal?«
    »Halt still.« Alison war voll konzentriert. »Du hast da eine Wimper.«
    Offensichtlich führte sie nichts Arges im Schilde, und bevor ich antworten konnte: »Ja klar, ich habe eine ganze Menge davon«, hatte ich eine weniger. Sie fuhr mit Daumen und Zeigefinger über die Haut unterhalb des Auges, nahm vorsichtig wie ein Taschendieb die Wimper auf und hielt sie gegen das Licht: ein dünnes, schwarzes Haar, das an ihrer Fingerspitze hing.
    »Wünsch dir was«, sagte sie.
    »Was?«
    »Wünsch dir was und puste sie fort. Los, mach schnell!«
    Sie sagte es in einem ruhigen, bestimmten Ton, so als ob es dafür feste Regeln gäbe, untermauert von harten wissenschaftlichen Fakten.
    »Okay.« Ich überlegte kurz, was ich mir wünschen sollte, schloss die Augen und blies die Wimper fort.
    Was ich mir damals gewünscht habe?
    Nun, mein erster Impuls war, etwas für mich selbst zu wünschen, etwas höchst Lächerliches, wie beispielsweise viel Geld. Doch als ich meine Lippen spitzte und zu pusten anfing, ertappte ich mich stattdessen dabei, wie ich mir etwas für Alison wünschte. Ich dachte,
warum nicht,
dann atmete ich aus, und der Wunsch war versiegelt. Als ich meine Augen wieder öffnete, war die Wimper verschwunden.
    So viel Selbstlosigkeit fühlte sich gut an: etwas für jemand anderen zu wünschen anstatt für sich selbst. Im Nachhinein glaube ich, dass man es nicht wirklich als selbstlos bezeichnen konnte. Es hatte keine reale Bedeutung, ich war nicht gefordert, etwas Bestimmtes zu leisten oder zu tun. Es ist leicht, großherzig zu sein, wenn es sich um nichts anderes als eine Wimper dreht.
    »Was hast du dir gewünscht?«, fragte Alison.
    Ich wollte es ihr sagen, weil sie es bestimmt toll gefunden hätte, aber selbst damals, als ich nur etwas über Sternschnuppen, aber nicht über Wimpern wusste, kannte ich zumindest eine Regel. Jeder kennt sie. Alison natürlich auch, sie wollte mich nur aufziehen.
    »Der Wunsch wird nicht in Erfüllung gehen, wenn ich ihn dir verrate«, sagte ich. »Meine Lippen sind versiegelt.«
    Obwohl sie ein wenig das Gesicht verzog, schien sie zufrieden. Meine Antwort war richtig. Der Rest des Tages verlief – soweit ich mich erinnern kann – wunderschön. Wie immer. Obwohl unsere Beziehung gerade erst begonnen hatte, war ich schon hoffnungslos in sie verliebt.
    Jetzt sind meine Lippen nicht länger versiegelt. Ich habe ihr ein glückliches und sicheres Leben gewünscht. Damals. Heute

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