Paarungszeit: Roman (German Edition)
sicher gut gemeint war. Aber in welche Politikerseele hätten sich angesichts der allgemeinen Begeisterung für den Gegenkandidaten keine Zweifel geschlichen? Nur sechzehn Leute wollen dich wählen, wisperte es auf ihren Gehirnfluren, und: Schau mal, noch nicht einmal deine Tochter unterstützt dich! Sie hatte selbstverständlich damit gerechnet, dass Susn da sein würde, schon allein in ihrer Funktion als Mitglied der Tourismusinitiative. Aber Susn saß nicht bei Quirin, Gina, Nat Wildmoser und Hartl, der sich ebenfalls im Saal umsah, vermutlich ebenso irritiert wie sie. Auch bei Franzi, Özcan, Anderl und Resi saß Susn nicht. Und fehlte nicht auch Cedric?
Therese konnte es nicht mehr überprüfen, denn Lucien war aufgestanden, vor der Brust sein kleines Akkordeon, das, wie sie jetzt wusste, Bandoneon hieß. Ebenso, wie sie jetzt wusste, dass die Fotografie auf seinem Nachttisch nicht seinen Freund, sondern seinen Lieblingskomponisten zeigte. Und dass Nylonstrumpfhosen sich bestens dafür eigneten, Gitarrensaiten abzudämpfen, wenn man Musik aufnahm. Im Gartenzimmer, bei einem Glas Rotwein, hatte sie gewagt, ihn danach zu fragen: »What do you do with the Feinstrumpfhosen?« Um ihre doch sehr direkte Frage abzumildern – vielleicht auch, weil sie sich vor einer direkten Antwort fürchtete – hatte sie ein lockeres »nur so, by the way« hinzugefügt. Der anschließende Dialog war kompliziert gewesen, und auf dem Höhepunkt der Missverständnisse – sie hatte auf ihre Feinstrumpfhosen gedeutet, er hatte versucht, sie ihr auszuziehen – hätte sie beinahe Cedric gerufen. Auch wenn die Angelegenheit vielleicht ein wenig pikant war. Aber schließlich hatte Lucien verstanden und ihr lachend gezeigt, wie er die Nylonstrumpfhosen um die Sättel der Gitarren schlang. »The best material«, hatte er gesagt, ihr vorgeführt, wie anders die Gitarre mit dieser Strumpfhosenveredelung klang, trocken, zirpend, ohne dass Saiten nachtönten, wenn Lucien rasend schnelle Läufe spielte. Dann hatte er sich wieder ihr zugewandt und … Sakra! Nicht daran denken, nicht jetzt.
Das Publikum hörte endlich auf, den Weidinger zu bejubeln, und ihre Wahlberaterin verpasste ihr einen ermunternden Schubs. »Jetzt geh, zeig’s ihnen!«
Lucien fing an zu spielen, ein Chanson, irgendwoher kannte sie das Lied, sie hatte es zu Hause, noch auf Schallplatte, und sie hörte die Kratzer der Platte mit, als Lucien weiterspielte: Non, je ne regrette rien. Hieß das nicht: Ich bereue nichts, und war die Sängerin nicht Edith Piaf, der Spatz von Paris? Gut! Hier kam der Spatz von Neuenthal. Unter dessen harmlosem Gefieder sich ein Bussard verbarg. Und zu bereuen hatte Therese Engler auch nichts.
Geschmeidig erklomm sie die Treppe und stand im Scheinwerferlicht. Mei, wie das blendete! Was tat jetzt Delphine de Brulée, warum stand sie auf, was hielt sie hoch? Ein Transparent: Liberté, Egalité, Fraternité, sie hatte doch immer gewusst, dass das Dritte klang wie ein Kaltgetränk. Auch andere Transparente wurden jetzt geschwenkt, von Hartl, sogar von Anderl, Franzi und Özcan. Für ein tolerantes Neuenthal, las sie auf Hartls Plakat, dann kam Anderl mit: Neuenthal is the world! Franzi schwenkte: Für einen Anschluss an eine globale Zukunft und an die internationale Mode! Fescht ist beautiful!, verdeckte fast Özcans Transparent: Fortschritt, Erleuchtung, Liebe. Und auf allen Transparenten, sogar auf Franzis, prangte groß ihr Name.
Im Publikum raunte es, als ein glasklarer Jodler sich erhob, wie ein Adler über dem Chanson kreiste, sich höherschraubte, immer höher, zu einem majestätischen Looping, bevor er sanft wieder landete und verklang. Lucien hatte jodeln gelernt. Für sie! Während der atemlosen Schweigesekunde im Saal schluckte Therese an ihrer Bierkuchenrührung, dann brach der Applaus los, die entzückten Schreie. Unter die sich auch Therese-Engler-Rufe mischten. An den verärgerten Gesichtern der Strobls konnte sie die Wirkung ermessen. Und tat das Großzügigste, Toleranteste und auch Klügste, das ihr möglich war: Sie verbeugte sich, setzte sich an ihren Tisch und ließ dem Weidinger den Vortritt.
»Neuenthaler!« So weit, so knapp. Das Publikum wartete gespannt. Aber mehr kam nicht, Fredl lief, Schritt, Schritt, Schritt, weg vom Pult, sozusagen weg von sich selbst und wieder zurück, sichtlich mit bedeutenden Gedanken ringend. Das erste frech eingeworfene »Fredl-Schatzerl« aus dem Publikum schien ihn beinahe zu erleichtern:
Weitere Kostenlose Bücher