Paarungszeit: Roman (German Edition)
mächtige Gedankenwoge zu weit getragen, über das erste Stockwerk hinaus. Sie kehrte um, stieg die paar Stufen wieder hinunter und öffnete die Wohnungstür.
Susn wusste, dass sie einen Schlüssel hatte, noch vom Umzug. Auch wenn es eher der Schlüssel ihres Bruders Hartl war, der Susn geholfen hatte. Aber Hartl hatte nichts dagegen, dass seine Schwester ihn vom Brett in der Tauchschule nahm. Genau genommen hatte er es noch nicht einmal bemerkt. Sie schlich in den dämmrigen Flur. Wohin mit dem Dirndl? Unschlüssig öffnete Therese die Wohnzimmertür. Grün und blau leuchtete es ihr entgegen, es plätscherte, rieselte und brummte leise. Von überallher glotzten sie Fische an. Waren es nicht noch mehr Aquarien als beim letzten Besuch? Sie warf einen raschen Blick in die Runde, Aquaristikzeitschriften auf dem Ledersofa, ein leerer Pizzakarton auf einem Tischchen neben einem kleineren Aquarium, in dem ein stahlblauer Fisch hin und her schoss. Der einzige Fisch in dieser drögen Gesellschaft, der sich nicht die Zeit zum Glotzen nahm. Ein Getriebener, wie es aussah, kurz vor dem Burn-out. Schmarrn! Als ob ein Fisch brennen könnte!
Sollte sie das Kleid über das Ledersofa drapieren? Oder sich ins Schlafzimmer schleichen? Bestimmt bewahrte Susn die anderen Hochzeitskleider im Schrank auf. Und sie musste zugeben, sie war neugierig auf das Gewand von Susns künftiger Schwiegermutter. Von dessen Existenz Therese nur zufällig, durch Quirins Freundin Gina, erfahren hatte. Natürlich hatte Therese ihrer Tochter daraufhin ihr eigenes Brautkleid vorbeigebracht. Ein wunderschönes Modell. Noch so gut wie neu. Damals hatte es eintausendfünfhundert Mark gekostet. Ein Vermögen! Kostbare Stoffe, zeitlose Form. Nur das Beste für Therese, die Braut von Veit Strobl. Sehr gut hatte es ihr gestanden, und bestimmt hatte ihr an ihrem Hochzeitstag niemand angesehen, dass sie sehnsüchtig und verzweifelt auf ein Lebenszeichen von Matthias wartete. Als sie sich schließlich bei ihm meldete, nach ihrem Nein-Wort vor dem Standesbeamten, wusste sie, warum er nichts von sich hören ließ: Er hatte eine feste Freundin. Die möglichst nichts von Wackersdorf erfahren sollte, und schon gar nichts von dem, was Therese einen plötzlichen Widerwillen gegen Apfeldatschi mit Sahne, große Sorgen und noch größeres heimliches Glück bescherte.
Sie blieb einen Moment vor Susns Schlafzimmertür stehen, dann hängte sie das Dirndl doch an die Flurgarderobe. Ihre Tochter würde es ihr übelnehmen, wenn sie ihren Kleiderschrank öffnete. Mei, Susn, mit ihren Launen und wie sie sich zierte, ihre Mutter mal etwas an sich heranzulassen! Heute im Laden hatte sie ihre Rührung nur mühsam verbergen können, als Susn ihre Locken schüttelte, Matthias Glatthalers Locken.
Die erste Zeit nach ihrem Nein-Wort im Standesamt war kein Zuckerschlecken gewesen. Blicke. Hämisches Geratsche, das gleich wieder verstummte, sobald sie in die Nähe der Ratschenden kam. Dazu ihr heftiger Liebeskummer. Sie hatte sich in Westernfilme geflüchtet, die sie in der Videothek in Mohnau auslieh. Ein Cowboy war über Liebeskummer erhaben. Und auch über jedes Geratsche. Ein Cowboy tat, was getan werden musste, dann kehrte er der Stadt den Rücken und ritt davon. Noch während der Schwangerschaft hatte sie ihren ersten Cowboyhut gekauft, ein Indiana-Jones-Modell. Und später war Susn zu den Soundtracks der Filme in den Schlaf gewiegt worden. Manchmal hatte Therese Engler das schlafende Susn-Bündel ihrem Bruder Hartl in die Arme gelegt, hatte ihren Indiana-Jones-Hut aufgesetzt und war noch einmal zum See gegangen, die Kopfhörer ihres Walkman auf den Ohren, hinein in einen orange glühenden, einsamen Sonnenuntergang über dem Brachsee.
Kruzifix! Was war das bloß, schon wieder diese Rührung, fast meinte sie, ihren Geschmack zu spüren, süß und würzig zugleich, wie Dunkelbierkuchen. Was war nur mit ihr los? Etwa Wechseljahre, irgendwelche Hormone, die verrücktspielten? Schmarrn! Für Wechseljahre hatte Therese Engler keine Zeit. Sie zupfte Susns Hochzeitsdirndl unter der Hülle zurecht, überzeugte sich, dass es gerade hing, und verließ die Wohnung.
Schon von weitem sah sie das Auto. Auf dem Parkplatz vor ihrer Pension. Jessesmaria, das Auto hatte ein ausländisches Kennzeichen, gelb das Nummernschild, niederländisch vielleicht, oder …
»Therese?« Ein riesiger Blumenstrauß versperrte ihr die Sicht. Ein Meer aus orangefarbenen, gelben, roten Blüten, geschmackvoll
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