Paarweise
weckt derjenige Mensch am meisten Sympathie, der natürlich wirkt. Natürlich sein heißt, sich a) zum neutralen Menschen und b) zu seiner Geschlechtsrolle zu bekennen. Da gibt es die Untertreibung: Eine Frau sieht sich zum Beispiel nur als Mensch, verleugnet ihren weiblichen Anteil, kleidet sich unauffällig, wird im Extremfall magersüchtig, um dadurch die Rückbildung der typisch weiblichen Körperformen zu erzeugen – und wird von der Konfrontation mit dem Andersgeschlechtlichen scheinbar verschont.
Da gibt es die Übertreibung: Zum Beispiel den aggressiven Macho, den Mann, der statt Gefühlen nur ein Pokerface zeigt, der eher zuschlägt als streichelt, einen Killer-Blick aufsetzt und kein Mitleid kennt. Seine Verleugnung des eigenen weiblichen Anteils führt dazu, dass er sich mit extrem einseitig weiblichen Frauen umgibt, die ihn im Kontrast zu sich als eindeutig männlich erscheinen lassen.
Das Ziel ist auch hier wieder die goldene Mitte, die vorhandenen Unterschiede zwischen Mann und Frau als solche zu schätzen, sie nicht zu verleugnen und sie nicht überzubewerten. Die Grundlage dafür ist, den gegengeschlechtlichen Anteil in sich selbst zu entdecken, anzunehmen und zu kultivieren. Ab jetzt schwindet die reflexhafte Ablehnung wegen Andersartigkeit. Und so ist auch jetzt erst Empathie wirklich möglich: Wäre nicht das Auge sonnengleich, es könnte die Sonne nicht erblicken , dichtete Goethe.
Die neue Frau – der neue Mann
Betrachten wir die Entwicklung des Menschen, so kann man von drei Geburten sprechen.
Die erste ist ein für uns weitgehend passiver Akt, dem wir ausgeliefert sind: die biologische Geburt. Sie erzeugt wohl die größte Angst in unserem irdischen Dasein, geht es bei dieser »Vertreibung aus dem Paradies« doch tatsächlich um Leben oder Tod. Wir wissen es nicht, haben keine Ahnung vom Leben außerhalb der Mutter, spüren nur den Verlust des Bisherigen, Vertrauten, warmen, geschützten Versorgungsstatus.
Angst, von lateinisch angustia , die Enge, ist das alles überflutende Gefühl, schwankend zwischen Schock und Verwunderung, ein hilfloses Ausgeliefertsein an einen revolutionären Vorgang, der das Ende der Unschuld und den Start in das Leben auf dieser Welt kennzeichnet. Von nun an wird eigenständig geatmet, gegessen, getrunken, verdaut und gelernt. Wir bekommen einen Namen und werden in einigen Jahren ein Selbstbewusstsein entwickeln, zwischen der Welt und uns unterscheiden können und nach einer längeren Weile eine Position im Leben haben.
Die von mir genannte dritte Geburt ist der Start einer sozialen Positionierung in diesem Leben. Man hat eine Ausbildung hinter sich, einen Beruf ergriffen, eine Position erklommen, privat eine Wohnung, einen Partner, Kinder, Hund, Hobbys, Nachbarn, einen Ruf bzw. ein Image, man könnte beschrieben werden durch äußere Kennzeichen wie Wohnlage und -stil,
sozialer Status, intellektuelles Niveau, Modestil, Sportarten, Fremdsprachen, Art des Freundeskreises etc.
Übersprungen habe ich ganz bewusst die zweite, die psychische Geburt. Zwischen der ersten und der dritten, der sozialen Geburt, liegt der Übergang zwischen Kind und Erwachsenem, die Ablösung der Kindheit durch die Pubertät zu einer Entwicklung der eigenständigen Persönlichkeit. Ist die Pubertät noch gekennzeichnet von einer Anti-Haltung – man ist »dagegen«, macht etwas »trotzdem« und »bloß nicht so, wie die Alten« – so ermöglicht die psychische Geburt dialektisch gesehen die Synthese.
War die Phase bis zur Pubertät ein eher imitationsgeleitetes Nachleben der Eltern und anderer Erwachsener oder auch älterer Kinder und Jugendlicher, ist die Pubertät die oft für alle als Leidenszeit empfundene Phase der Antithese zum Bisherigen. Das Verweigern, der Protest, die Rebellion, die Abgrenzung stehen auf der Fahne des halbstarken Teenagers. Wenn wir einen Pubertierenden fragen, was er will, kann er ziemlich genervt, nervend, aber auch ausführlich erzählen, was er nicht will. Wissenschaftliche Studien zeigen, dass der pubertierende Jugendliche nicht nur anstrengend ist für die nähere Umwelt und darüber hinaus, sondern auch unter sich selbst leidet. Das kennt man auch aus depressiven Berichten oder Gedichten und lässt sich ableiten aus der erschreckend hohen Zahl an jugendlichen Selbstmorden, der zweithäufigsten Todesart von Jugendlichen (Bojack 2011).
Die Pubertät mit ihren anstrengenden kommunikativen Auswüchsen wird von den Eltern meist am mühsamsten erlebt,
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