Pain - Bitter sollst du buessen
Nachrichten zwischenzuschalten, falls welche vorlägen. Die Zeit verflog, und mit jeder Minute fühlte sich Sam mehr in ihrem Element. Während sie mit ihren Hörern redete, verblassten die flüchtigen Gedanken an die Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter und das verunstaltete Foto.
Sie war schon fast drei Stunden lang auf Sendung, hatte ihre Cola ausgetrunken, bereits die zweite Tasse Kaffee vor sich und stand kurz davor, zum Schluss zu kommen, da nahm sie noch den Anruf eines Mannes entgegen, den der Computerbildschirm als John auswies.
»Hier ist Dr. Sam. Wie geht es dir heute Abend?«
»Gut. Mir geht’s gut«, meldete sich eine glatte Männerstimme.
»Wie heißt du?«, fragte sie um der Hörer willen.
»John.«
»Hi, John, worüber möchtest du reden?« Sie griff nach ihrer Kaffeetasse.
»Beichte.«
»Gut.«
»So heißt deine Sendung.«
»Ja. Nun, John, was beschäftigt dich?«
»Du kennst mich.«
»Ich kenne dich? Woher?«
»Ich bin der John aus deiner Vergangenheit.«
Sie spielte mit. »Ich kenne eine Menge Johns.«
»Darauf möchte ich wetten.«
Schwang etwas wie Missbilligung oder Herablassung in seiner Stimme? Zeit, die Sendung zu Ende zu bringen. »Möchtest du heute Abend über etwas Bestimmtes sprechen, John?«
»Über Sünden.«
Beinahe hätte sie ihre Tasse fallen lassen. Das Blut gefror ihr in den Adern. Die Stimme – es war die gleiche Stimme wie auf ihrem Anrufbeantworter! Die Sicherheit, in der sie sich den ganzen Abend über gewiegt hatte, war dahin. »Über welche Art von Sünden?«, presste sie hervor.
»Über deine.«
»Meine?« Wer war der Kerl? Sie musste ihn aus der Leitung bekommen, und zwar schnell.
»Menschen werden für ihre Sünden bestraft.«
»Wie?«, fragte sie. Ihr Puls raste. Sie warf einen Blick zu Melanie hinüber. Diese schüttelte den Kopf. Als die Anrufe von ihr gefiltert worden waren, hatte John ihr gegenüber offenbar ein anderes Thema angeführt.
»Du wirst es sehen«, sagte er.
Sam gab Melanie ein Zeichen, in der Hoffnung, das Mädchen würde verstehen, dass sie schnellstens das Gespräch beenden musste. Am besten sofort. Sie war jetzt vollkommen überzeugt, dass dieser Kerl derjenige war, der die Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter hinterlassen hatte.
»Vielleicht sollte ich bereuen«, sagte sie mit zum Zerreißen gespannten Nerven, während sie auf Zeit spielte.
»Natürlich musst du bereuen. Beichte, Samantha. Mitternachtsbeichte.«
O Gott, der Typ war vollkommen durchgeknallt. »Ich werde mir den Rat zu Herzen nehmen.«
»Das wäre sehr klug, Sam. Denn Gott weiß, was du getan hast, und ich weiß es auch.«
»Was ich getan habe?«
»Ganz recht, du heißblütige Schlampe. Wir wissen beide …«
Sam unterbrach die Verbindung. Aus den Augenwinkeln sah sie Melanie auf der anderen Seite der Scheibe wild auf die Uhr zeigen. Nur noch zwanzig Sekunden bis zum Ende der Sendung. Die Kontrolllampen blinkten wie wild. »Für heute ist unsere Zeit abgelaufen«, sagte Sam um Fassung bemüht. Als sie den Button drückte, der die Schlussmusik aufrief – die Grass Roots mit dem Stück »Midnight Confessions« –, schlug ihr Herz einen wilden Trommelwirbel. Irgendwie fiel ihr das Abschiedswort noch ein, ihr Markenzeichen. Nachdem die ersten Akkorde verklungen waren, sagte sie: »Hier ist Dr. Sam mit einem letzten Gruß … Gib auf dich Acht, New Orleans. Gute Nacht euch allen, und Gott segne euch. Ganz gleich, was euch heute bedrückt, denkt daran, morgen ist ein neuer Tag … Träumt was Schönes …«
Sie spielte ein paar Werbespots ein, schob das Mikrofon von sich und rollte auf ihrem Stuhl zurück. Dann legte sie die Kopfhörer ab, griff nach ihrer Krücke, stand auf und schleppte sich, kurz vorm Hyperventilieren, aus der Kabine.
»Wie ist der Typ an dir vorbeigekommen?«, wollte Sam wissen, als Melanie aus ihrer Kabine auf den Flur trat.
»Er hat gelogen, wie sonst!« Melanie war hochrot im Gesicht; sie biss kampfbereit die Zähne zusammen. »Also, wo zum Teufel ist Tiny?« Sie stapfte den Flur auf und ab. »Ihm bleiben weniger als fünf Minuten, um ›Licht aus‹ zu starten!« Sie suchte mit den Augen den Flur ab.
»Vergiss Tiny. Wie war das mit dem letzten Anrufer?« Sam zitterte innerlich. Sie war wütend. Und verängstigt.
»Ich weiß es nicht.« Melanie hob gereizt die Hände. »Er … er hat mich reingelegt. Sagte, er wollte übers … Paradies reden … übers verlorene Paradies … Ich habe Mist gebaut, okay? Bitte schön, dann nagle
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