Pakt der Könige
Gedanken gebracht …
Wahnsinn. Jemand musste es ihr sagen. Aber auf wen würde sie hören? Wem vertraute sie?
Lionor änderte abrupt ihre Laufrichtung und ging so schnell sie konnte zum Palast der Shi-Âr zurück. Die Hitze presste ihr die Lunge zusammen, und ihr Bauch schien Tonnen zu wiegen; ihre Furcht verwandelte sich in Panik, in der Gewissheit, dass eine nicht wiedergutzumachende Katastrophe sich anbahnte, wenn es ihr nicht gelang, Marikani aufzuhalten.
Die Mühen all dieser Jahre konnten durch ein einziges Wort zu Asche werden …
Außer Atem erreichte sie den Haupteingang und stützte sich an einem Torgitter ab, um Luft zu holen. Sie war eigentlich nicht schwach. Jahre des Reitens und Wanderns und eine Kindheit auf dem Lande, in der sie sich mit ihren Brüdern und Cousinen geprügelt hatte, hatten Lionor zu einem kräftigen Mädchen gemacht. Sie konnte sogar recht gefährlich werden. Wenn sie schon bei solch einer Hitze zusammenbrach, was taten dann erst die Frauen von Salmyra, wenn sie schwanger waren und drei Schritte vor die Tür machen wollten?
Nahe beim Gitter war Blut: zwei große Pfützen, die vom Kopf eines Sklaven herrührten, der auf einen Pfahl gespießt war. Reizend. Aber wenigstens hatten sie die Leichen weggeräumt.
Zwei freie Dienerinnen, die einen Korb und einen Krug trugen, sahen, dass sie mit unsicheren Schritten ihren Weg fortzusetzen versuchte, und eilten auf sie zu, um ihr zu helfen. Lionor stützte sich dankbar auf die Arme, die sich ihr entgegenstreckten, unterbrach aber die junge Frau, die ihr anbot, sie in die Gebäude zurückzubringen, die den Mitgliedern des Gefolges der Königin von Harabec vorbehalten waren.
»Wo ist Arekh es Morales?«, fragte sie. Die Dienerin starrte sie verständnislos an, und Lionor fügte hinzu: »Er ist Offizier. Ein hochrangiger. Der Mann aus Reynes … der Vatermörder«, schloss sie, und nun nickte die Dienerin.
»Aida Morales«, sagte sie mit dem melodischen Akzent der Pashnou. »Ich weiß es nicht. Vielleicht im Offizierszimmer. Es sei denn, er ist draußen in den Dünen. Es ist angeblich schon wieder zu Angriffen gekommen.«
»Nein«, sagte die andere Frau. »Er war heute Morgen bei der Ratssitzung, mit all den Königen. Er kann noch nicht fort sein.«
»Wo ist das Offizierszimmer?«, fragte Lionor gereizt.
Die Dienerin deutete auf ein Gebäude. »Im Violetten Flügel, da rechts …«
Lionor nickte. »Sehr gut. Gebt mir bitte einen Schluck Wasser, ja?«, sagte sie und streckte die Hand nach dem Krug aus.
Die Dienerin zögerte. Dass eine Frau niederen Standes einfach nicht auf einen derart simplen, direkten Befehl
reagierte, war so erstaunlich, dass Lionor die beiden Frauen überrascht anstarrte.
»Habt Ihr mich verstanden?«
»Natürlich, natürlich«, antwortete die Dienerin und reichte ihr sofort den Krug. Lionor trank zwei große Schlucke Wasser und gab das Gefäß dann der jungen Frau zurück, die fortfuhr: »Verzeiht mir, Ehari. Es ist nur … Um ehrlich zu sein hatten wir vor, das Wasser für uns selbst zu behalten. Es gab kaum noch etwas am Tor, und einer der Wachsoldaten hat uns gesagt … Er ist mein Cousin, wisst Ihr? Er hat also gesagt …«
Die beiden Frauen zögerten.
»Wir dürften das eigentlich nicht weitersagen«, fuhr die Dienerin dann mit gesenkter Stimme fort, »aber anscheinend ist die Südstraße abgeschnitten. Das ist allerdings nur ein Gerücht.«
Die Südstraße sagte Lionor nichts; sie beschränkte sich darauf zu nicken. »Danke für den Hinweis«, sagte sie und eilte dann zum Violetten Flügel hinüber.
Arekh war nicht im Offizierszimmer. Er war auch nicht auf den Mauern oder außerhalb der Stadt, wie ihr ein junger Nâla-Di erklärte; Lionor hatte ihn auf dem Flur angesprochen, und er stellte sich als eine Art Adjutant heraus. Der Nâla-Di begleitete Lionor galant bis in den Gästetrakt, in dem Arekh seine Gemächer hatte, und ließ sie im Garten diskret allein. Das war das Schöne an der Politik: Ein Mann des Emirs, der Lionor, wenn der Staatsstreich in Harabec erfolgreich gewesen wäre, vielleicht ohne Reue vergewaltigt und ermordet hätte, ging nun unendlich feinfühlig mit ihr um. So war die Welt - das Leben nahm äußerst seltsame Wendungen. Lionor hielt sich nicht lange mit diesem
Gedanken auf und durchquerte den Garten, so schnell sie nur konnte.
Es war beinahe Mittag, und trotz der wunderschönen Bäume, die auf dem Hof blühten, wurde die Luft immer drückender. Lionor sah eine Tür,
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