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Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

Titel: Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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machte sie sich klar. »Du wirst nicht umkehren, sondern sie durchstehen.« Und so wurde sie, ohne sich dagegen sträuben zu können, wie ein an einer Felswand herabrinnender Wassertropfen zu einem ganz bestimmten Punkt geführt, auf den Grund einer engen Schlucht.
    Als sie am Eingang der Klamm stand und die senkrecht abfallenden, grauen, feuchten, beängstigend hohen Wände emporblickte, beschlich sie die Ahnung von einer neuen Prüfung, die hier auf sie warten könnte. Ihr Gefühl sollte sie nicht trügen.
    Voller Unbehagen trat sie in die Schlucht. Der ohnehin schon schmale Pfad schien vor ihr auf die Breite eines Nadelöhrs zusammenzuschrumpfen. In weiter Ferne konnte sie den sonnenbeschienenen Hang des Schlossberges sehen. Der Weg dorthin lag in tiefem Schatten, weshalb sich die vereinzelt auf ihm herumliegenden Gegenstände nicht deutlich erkennen ließen. Es mochte sich dabei um die verwitterten Überreste von Bäumen handeln, die vor langer Zeit hier herabgestürzt waren. Andere Umrisse sahen eher wie Felsbrocken aus. Weit ausholende Schritte und ständiges Mutzureden halfen Pala über die Hälfte der Wegstrecke hinweg. Dann lag eines der rätselhaften Gebilde unmittelbar vor ihr und sie erschrak. Nuschel, eben noch auf ihrer Schulter, flüchtete unter ihre Haare und lugte vom Nacken aus ängstlich zu dem Gegenstand hin. Es handelte sich um die ausgedörrte Hülle eines seiner Artgenossen.
    Pala blieb bestürzt vor dem Kadaver stehen. Er glich eher einem staubigen Nuschelkostüm als jenem Kerlchen, das da gerade in ihrem Genick schlotterte. Die Augenhöhlen des toten Nuschels waren leer. Pala stieß es mit dem großen Zeh an. Es schabte leicht wie ein trockenes Stück Rinde über den Felsboden.
    »Als hätte es jemand ausgetrunken«, flüsterte sie. »Wer tut so etwas, Nuschel?«
    »Weiß-ich-nich’«, bibberte es aus ihrem Nacken.
    »Es wird wohl besser sein, wir schlagen hier keine Wurzeln.« Voll unguter Ahnungen setzte sie ihren Weg fort.
    Nach wenigen Schritten erreichte sie den nächsten Kadaver. Diesmal handelte es sich um die vertrocknete Hülle eines Wortklaubers. Sein Gesicht trug immer noch einen Ausdruck des Schreckens, der Pala erschaudern ließ. Sie wandte sich von seinen leeren Augenhöhlen ab und beschleunigte ihren Schritt.
    Soweit die enge Schlucht dies zuließ, machte sie um die nächsten Dörrleichen einen Bogen. Aus den Augenwinkeln nahm sie alle möglichen Phantasiegeschöpfe wahr, große und kleine, behaarte und gefiederte, abstoßend und putzig aussehende… In der pergamentenen Haut eines gänzlich unbehaarten Zwerges erkannte das Nuschel einen nahen Verwandten namens Nörgel. Manche Körper hatten einmal großen Insekten gehört, deren Panzer zwar nicht zusammengefallen, aber milchig durchscheinend geworden waren und Pala in ihren Vermutungen über das Schicksal dieser armen Kreaturen bestärkten: Irgendein Raubtier musste sie restlos ausgesaugt haben.
    Nun begann sie zu laufen. Beflügelnd wirkte zusätzlich die Erinnerung an ein Kapitel über ägyptische Mumien, das sie während der Quarantäne gelesen hatte. Vor dem Einbalsamieren pflegten die Beerdigungsfachleute der Pharaonen mit allerhand Werkzeugen über den toten Körper ihres Herrn herzufallen, um ihn von seinen Innereien zu befreien, dem Herz, der Leber, den Nieren… Das Gehirn wurde mit einem Haken durch die Nase herausgezogen. Ob der Bewohner dieses schattigen Plätzchens das Ägyptenbuch kannte? Pala wollte hier jedenfalls nicht als Kostüm ihrer selbst enden.
    Im Voraneilen erblickte sie nun sogar große Bündel, die über ihr in Netzen an der Felswand hingen wie die Kokons riesiger Insekten. Vielleicht zog das mörderische Etwas dieser Schlucht dort seine Brut auf. Noch einmal trieb Pala sich zu einer schnelleren Gangart an.
    Der Gedanke an die eigene schlaffe Hülle, die langsam an der Luft ausdörrte, ließ sie den vom Schlossberg her aufziehenden Schatten zunächst gar nicht beachten. Er hätte ja ein Vorbote jenes grauen Wolkenheers sein können, das sie beim Betreten der Schlucht schon hatte nahen sehen. Als dann aber einige Felsen vor ihr auf den Boden krachten, kam sie schlitternd zum Stehen. Wolken warfen nicht mit Steinen. Einer der eben niedergegangenen Brocken war so groß wie Palas Kopf, fast hätte er sie erschlagen. Wo ohnehin schon wenig Licht den Weg erreichte, sah sie nun einen finsteren Schatten auf sich zukrauchen.
    Als der dunkle Fleck direkt über ihr war, brachte sie endlich den Mut auf, nach

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