Paladin der Seelen
Und Arhys traf Illvin niemals wach an. Seit jener Nacht hatten die beiden nie die Gelegenheit gehabt, ihre Erfahrungen zu vergleichen, oder zumindest Einzelheiten ihrer Erfahrungen, an die sie sich erinnerten.
Lady Cattilara allerdings sah sie beide. Redete mit beiden. Konnte beiden jede Geschichte erzählen, die ihr gerade in den Sinn kam.
Schauen wir mal, ob wir daran etwas ändern können.
Ista wartete eine Weile, während Goram den persönlicheren Bedürfnissen seines Herrn nachkam, ihn wieder zurechtlegte und ihm hastig so viel von der für einen Kranken weich gekochten Nahrung den Schlund hinunterschob, wie die Zeit es zuließ. Die Leine wurde zuerst ein wenig, dann merklich dicker. Ista streckte die Hand aus und umfasste die leuchtende Linie behutsam mit Daumen und Zeigefinger.
Lord Bastard, geleite mich, wie es deinem Willen entspricht. Oder deinen Launen, wie man in deinem Fall wohl eher sagen sollte.
Allein durch ihren Willen zwang sie die Leine, sich zusammenzuziehen, ließ das Licht durch ihre Handfläche zurückgleiten wie Wolle beim Spinnen. Wie es schien, gehörte mehr zur Gabe des Bastards als nur das Sehen. Mühelos konnte sie auch etwas verändern. Zuerst ahmte sie eine Bewegung nach, als würde sie die Leine aus weißem Feuer Hand über Hand einholen. Bald schon aber bemerkte sie, dass sie den Fluss des Lichts einfach durch ihren Willen kontrollieren konnte. Sie hielt den Blick auf den gegenüberliegenden Säulengang gerichtet, wo die Passage aus dem benachbarten Hof mündete.
Lord Arhys schritt hindurch und trat auf die in Sonne getauchten Pflastersteine.
Er trug leichte Kleidung, wie sie zu diesem heißen Nachmittag passte, und sein graues Leinengewand mit dem Goldbesatz schwang um seine Waden. Er war sauber, sein Bart frisch gestutzt. Er gähnte herzhaft und blickte dann besorgt zum Gemach an der Ecke der Galerie hinauf. Als er Ista auf dem Geländer lehnen sah, verbeugte er sich höfisch in ihre Richtung.
Gerade eben von einem Nickerchen erwacht, nicht wahr? Und ich weiß genau, wie spät Ihr gestern noch wach wart.
Mit einiger Schwierigkeit löste Ista den Blick von seinem eleganten äußeren Erscheinungsbild.
Seine Seele war grau und merkwürdig blass und verschoben, als würde sie ihm ein wenig hinterher hinken und dabei eine feine Rauchspur hinterlassen.
Ah. Nun verstehe ich. Ista richtete sich auf und bewegte sich zur Treppe, ging ihm entgegen, als er hinaufstieg.
Auge in Auge verharrten sie. Ista stand zwei Stufen über seinen bestiefelten Füßen. Arhys wartete höflich ab und lächelte sie verwirrt an. »Majestät?«
Sie umfasste sein kräftiges Kinn mit den Fingern, erschauerte unter dem fühlbaren Strich seines Bartes an ihrer Handfläche, lehnte sich dann nach vorn und küsste ihn auf den Mund.
Er riss die Augen auf und gab einen überraschten, unterdrückten Laut von sich, wich aber nicht zurück. Sie schmeckte seinen Mund: kühl wie Wasser, und ebenso ohne Aroma. Traurig löste sie sich von ihm. Ich fürchte, das führt auch zu nichts.
Er blickte verwirrt; ein schiefes Grinsen legte sich auf sein Gesicht, und er kniff die Brauen zusammen, als wolle er sagen: Was soll das bedeuten, meine Dame? Als würde er jeden Tag unvermittelt von irgendwelchen Frauen auf Treppenaufgängen geküsst und als empfände er es als unhöflich, dem auszuweichen.
»Lord Arhys«, sagte Ista. »Wie lange seit Ihr schon tot?«
14
A
rhys’ Lächeln erstarrte, und sein Gesicht nahm einen vorsichtigen Ausdruck an. Er betrachte Ista mit Verwunderung und Sorge, als fürchte er, die verrückte Königin könnte vor seinen Augen einen Rückfall erleiden, und er würde als nachlässiger Gastgeber dafür zur Verantwortung gezogen. »Madam, Ihr beliebt zu scherzen …« Das war eine Einladung, ihre Worte zurückzunehmen. Ein deutlicher Hinweis: Bitte, tut das nicht. »Normalerweise werden meine Küsse höher geachtet!«
»Selten war mir weniger nach Scherzen zumute.«
Er lachte unbehaglich. »Ich gebe zu, das Fieber hat mir in letzter Zeit arg zugesetzt, aber ich versichere Euch, das Grab muss noch lange auf mich warten.«
»Ihr habt kein Fieber. Ihr schwitzt nicht einmal. Eure Haut hat dieselbe Temperatur wie die Luft. Wäre es nicht so unmenschlich heiß in dieser Region und zu dieser Zeit, hätten die Leute in Eurer Umgebung es längst schon bemerkt.«
Er starrte sie noch immer mit demselben bestürzten Ausdruck an.
Bei den fünf Göttern. Er weiß es wirklich nicht.
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