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Paladin der Seelen

Paladin der Seelen

Titel: Paladin der Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lois McMaster Bujold
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erst an Cattilara vorbei zu Lord Arhys hatte vorstoßen können. Cattilara betrachtete Ista offensichtlich eher als ältere Tante – eine Tante mit einer wundervoll tragischen und romantischen Vorgeschichte. Trotzdem hatte die Gräfin keine Gelegenheit verstreichen lassen, ihren Anspruch auf Arhys vor Istas Augen deutlich zu bekunden. War ihre besitzergreifende Art nur Gewohnheit oder die Folge einer nicht lange zurückliegenden Furcht?
    Für die veränderte Version der Geschichte sprach der Anschein von Wahrscheinlichkeit. Der verachtete Bastard, der bislang beinahe leer ausgegangen war, bekam eine wunderschöne Prinzessin in greifbare Nähe gerückt, nur damit sie ihm plötzlich vom älteren Bruder weggeschnappt wurde – einem Bruder, der bereits alles besaß, einschließlich einer wunderschönen Frau, und der nichts mehr benötigte. Der Reiche, der den Armen beraubte … Grund genug also, um in rasender Eifersucht einen Brudermord zu versuchen. Solche Taten kamen überall vor, unter weniger bedeutsamen Männern, unter Quintariern sowie unter den Angehörigen des vierfältigen Glaubens, bei jedem Volk und in jedem Landstrich.
    Also: Illvin, der sich in einem Anfall von Eifersucht gegen den Bruder und die Geliebte wandte, der die herumhurende Prinzessin erstach, dem dann die Waffe entrissen wurde und der seinerseits vom entsetzten Arhys niedergestochen wurde. Und den man für tot zwischen den Decken zurückließ?
    Einen Augenblick. Ista ergänzte dieses Bild: Illvin, der sorgfältig entkleidet wurde, dessen Kleidung sorgsam auf einem Stuhl abgelegt war, seltsamerweise ohne den kleinsten Blutfleck. Dann wurde das Messer zurück in Umerues Körper gesteckt, und erst dann wurde Illvin für tot zurückgelassen. Zweifelnd rümpfte sie die Nase.
    Und irgendwie war man auch Lord Pechma und sein Pferd losgeworden. Heimlichtuerei schien nicht eben Arhys Stil zu sein. Doch wenn er tatsächlich einen Rachefeldzug des Fürsten von Jokona befürchtete, für den Tod seiner schönen – oder unauffälligen – Schwester? Grund genug, die Schuld auf den geflohenen jokonischen Höfling zu lenken, der vielleicht schon ermordet und verscharrt war. Arhys verfügte ganz gewiss über die Stärke und Kaltblütigkeit, die es für eine solche Tat brauchte.
    Eine solche Täuschung hätte außerdem dazu beigetragen, Arhys’ Untreue vor seiner schlafenden Frau verborgen zu halten. Seine öffentlichen Gebete und seine Sorge um den niedergestreckten Bruder – auch nur eine Täuschung? Oder der Ausdruck von Schuldgefühl?
    Wieder eine glatte Geschichte. Nur dass sie nicht das Auftauchen von Cattilaras Dämon erklärte, und nicht die tödliche Wunde, die scheinbar von beiden Brüdern geteilt wurde. Und nicht die Tatsache, dass Cattilara anscheinend mehr über die Vorkommnisse wusste als Arhys. Hinzu kamen noch Istas Träume. Die Schnur aus weißem Feuer. Und das Erscheinen eines Gottes. Und …
    »Ich fürchte«, sagte Lord Illvin mit schwacher Stimme, »ich werde verrückt.«
    »Nun«, erwiderte Ista trocken. »Braucht Ihr dabei noch einen erfahrenen Führer? Dann bin ich die Frau, die Ihr sucht.«
    Er blickte sie verwirrt an.
    Sie erinnerte sich an Arhys’ kummervolles Klagen in einem von Kerzen erhellten Gemach, von ihrem Traum im Zelt. Doch war das ein Bild aus der Vergangenheit oder aus der Zukunft?
    Sie zweifelte nicht daran, dass dieser Mann hier zu raffinierten Lügen fähig war, wenn er seinen Verstand beisammen hatte. Ebenso deutlich war allerdings, dass dieser Verstand im Augenblick wie ein Bettler über die Straßen irrte. Er mochte Unsinn stammeln, mochte toben, mochte im Fieberwahn reden, aber er log nicht. Also … auf wie viele verschiedene Weisen konnten drei Leute zwei von sich mit einem Messer töten? Ista rieb sich die Stirn.
    Goram machte eine unbeholfene Verbeugung in ihre Richtung. »Herrin. Bitte. Er braucht Zeit zum Essen. Und zum Pinkeln.«
    »Nein, lass sie nicht fortgehen!« Illvins Arm schoss nach vorn, fiel dann kraftlos auf die Decke.
    Ista nickte dem besorgten Knecht zu. »Ich gehe ein wenig nach draußen. Nicht weit weg. Ich bin bald zurück«, fügte sie in Richtung auf den aufgeregten Illvin hinzu. »Das verspreche ich Euch.«
    Ista trat hinaus auf die Galerie und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen die Wand. Sie musterte die dahintreibende Leine aus Licht, die zu einem feinen Faden geschrumpft, aber nicht unterbrochen war.
    Also. Illvin begegnete niemals seinem Bruder und konnte nie mit ihm reden.

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