Paladin der Seelen
Verzweiflung überkam sie.
»Ich glaube«, sagte sie behutsam, »Ihr solltet Euch mit Eurem Bruder unterhalten.«
Schmerzerfüllt verzog er das Gesicht. »Ich wollte, das könnte ich. Jeden Tag bete ich darum. Aber er erwacht nicht von seiner vergifteten Wunde.«
»Doch, das tut er. An jedem Mittag, wenn Ihr Euer kleines Schläfchen haltet. Die einzige Zeit, zu der Ihr überhaupt schlaft. Hat Eure Frau es Euch denn nicht erzählt? Sie ist beinahe jeden Tag bei ihm, um seine Pflege zu überwachen.« Und manchmal auch bei Nacht. Obwohl sie dann nicht gerade an seiner Pflege interessiert ist, würde ich sagen.
»Majestät, das stimmt nicht, ich versichere es Euch.«
»Ich habe gerade eben noch mit ihm gesprochen. Kommt mit mir.«
Der ungläubige Ausdruck in seinem Gesicht blieb unverändert, doch als sie sich umwandte und wieder die Treppen hinaufstieg, folgte er ihr.
Sie betraten Illvins wohl geordnetes Schlafgemach. Goram saß da und beobachtete seinen Anvertrauten. Als er Lord Arhys erblickte, sprang er auf, machte eine ruckartige, unbeholfene Verbeugung und gab ein unterwürfiges Gemurmel von sich, das »Herr« heißen mochte.
Arhys’ Blick glitt über die reglose Gestalt auf dem Bett. Enttäuscht kniff er die Lippen zusammen. »Er ist so wie immer.«
»Lord Arhys, setzt Euch«, sagte Ista.
»Ich stehe lieber, Majestät.« Er betrachtete sie missbilligend und blickte immer unduldsamer.
»Wie Ihr wünscht.«
Die Linie aus weißem Feuer zwischen den beiden war nun kurz und dick. Inzwischen wusste Ista, worauf sie achten musste, und sie konnte die Anwesenheit des Dämons darin erkennen, ein schwaches, violettes Glühen, das in drei Linien verlief, doch nur eine war von weißer Seelensubstanz durchdrungen. Ista umschloss die Leine zwischen den beiden Männern mit der Hand und drückte sie auf halbe Breite zusammen. Das aufgestaute weiße Feuer strömte zurück in Illvins Körper.
Lord Arhys’ Knie gaben nach, und er fiel in sich zusammen.
»Goram, hilf dem Grafen auf einen Stuhl«, wies Ista ihn an. Bleib so, befahl sie stumm der unsichtbaren Verengung, und so geschah es.
Sie trat an Illvins Bettkante und betrachtete die Ansatzpunkte des Lichts an seinem Körper. Nach oben, befahl sie ihnen schweigend und versuchte, sie mit den Händen anzustoßen, sie an der Stirn und am Mund zu verdichten, so wie Cattilara es an … an jener anderen gottgeweihten Körperstelle getan hatte. Das Licht sammelte sich so, wie sie es wünschte. Bleib so. Sie legte den Kopf schräg und betrachtete das Ergebnis ihrer Bemühungen. Ja …
Goram schob von der Wand neben Illvins Bett eiligst einen Holzstuhl aus polierten, verflochtenen Bögen heran. Er zerrte den erschrocken aussehenden Arhys an den Schultern hoch und setzte ihn darauf. Arhys machte den Mund zu und rieb sich mit einer plötzlich schwachen und zittrigen Hand übers Gesicht. Fühlte sie sich taub an? Rücksichtslos entwendete Ista Gorams Hocker und setzte sich an das Ende des Bettes, von wo aus sie die Gesichter der beiden Brüder am besten im Blick hatte.
Illvin schlug die Augen auf. Er holte tief Luft und bewegte den Unterkiefer. Schwächlich stützte er sich auf einen Ellbogen, bis er schließlich seinen Bruder erblickte, der zu seiner Rechten saß und ihn offenen Mundes anstarrte.
»Arhys!« Freude klang aus seiner Stimme. Das plötzliche Lächeln veränderte sein Gesicht. Ista lehnte sich blinzelnd zurück, als so plötzlich ein so anziehender Mann zum Vorschein kam. Goram eilte geschäftig herbei und stapelte Kissen hinter seinem Rücken auf. Illvin kämpfte sich weiter hoch, den Mund vor Staunen aufgerissen. »Ah! Du lebst! Ich habe ihnen nicht geglaubt; sie konnten mir nie in die Augen sehen. Ich dachte sie lügen, um mich zu schonen – also bist du gerettet! Ich bin gerettet. Bei den fünf Göttern, wir alle sind gerettet!« Er ließ sich zurückfallen, schwer atmend und grinsend, brach fünf Atemzüge lang in Tränen aus und bekam sein Keuchen dann unter Kontrolle.
Arhys starrte ihn an wie ein betäubter Ochse.
Erleichtert stellte Ista fest, dass Illvins undeutliche Aussprache verschwunden war, auch wenn seine unteren Gliedmaßen fast vollständig gelähmt waren. Sie betete darum, dass sein Geist sich gleichermaßen geklärt hatte. In kühlem Tonfall – weit entfernt von dem, was sie tatsächlich fühlte – fragte sie: »Warum habt Ihr geglaubt, Euer Bruder sei tot?«
»Bei den Göttern, was sollte ich sonst denken? Ich habe gefühlt, wie das
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