Paladin der Seelen
die Bank am gegenüberliegenden Ende des Innenhofes, und Arhys nickte.
»Warte hier«, sagte Ista leise zu Liss. Das Mädchen nickte und ließ sich auf den obersten Stufen nieder. Ista stieg die Treppe ganz hinunter und schritt an Arhys’ Seite über das Pflaster. Dieser reichte seine Fackel dem Pagen, aber der Junge konnte den Halter, der sich hoch in einer behauenen Säule befand, nicht erreichen. Arhys lächelte kurz, nahm die Fackel zurück und steckte sie selbst hinein. Dann entließ er den Pagen, der Liss Gesellschaft leistete. Ista und Arhys setzten sich jeweils an ein Ende der Steinplatte, die noch immer ein wenig warm war von der Sonnenglut des Tages. Die sternübersäten Tiefen des Himmels, eingerahmt von den umliegenden Dächern des Innenhofes, schienen das goldene Glühen von Liss’ Kerze und der Fackel zu verschlucken. Arhys’ Gesicht kaum mehr als ein mattgoldener Schatten vor einem Hintergrund aus Schwärze, doch seine Augen funkelten.
»Ein ereignisreicher Tag, den Eure zurückgekehrten Gefährten und ihr jokonischer Anhang uns verschafft haben«, begann er. »Zwei meiner Patrouillen sind aus dem Süden und Westen zurückgekehrt, hatten aber nichts zu berichten. Zwei weitere Patrouillen aber sind noch fort, und ich mache mir Sorgen.« Er zögerte. »Cattilara hat mich bei meiner Rückkehr nicht willkommen geheißen. Ich glaube, sie ist wütend auf mich.«
»Weil Ihr ausreitet und Eure Pflicht tut? Sie wird Euch gewiss vergeben.«
»Sie wird mir nicht meinen Tod vergeben. In dieser Sache bin ich zu ihrem Feind geworden, aber auch zu ihrem Gewinn.«
Seid Ihr das? »Sie glaubt immer noch, sie kann Euch zurückgewinnen. Oder zumindest verhindern, dass Ihr dahingeht. Ich glaube, sie verkennt die zerstörende Auswirkung dieser Verzögerung auf Euch, weil sie von der Oberfläche der Dinge geblendet wird. Falls sie sich auflösende Geister überhaupt wahrnimmt – das Wesen ihrer Verdammnis begreift sie bestimmt nicht.«
»Verflucht«, flüsterte er. »Ist es das, was ich bin? Das erklärt einiges.«
»In theologischer Hinsicht ist es genau das, glaube ich, auch wenn dy Cabon diesen Ausdruck vielleicht verfeinern kann. Ich kenne die Sprache der Gelehrten nicht, aber ich habe es selbst gesehen. Ihr werdet nicht mehr von der Materie genährt. Zugleich wird Euch auch der Beistand Eures Gottes vorenthalten. Allerdings nicht durch Euren eigenen Willen, wie es bei tatsächlich verlorenen Geistern der Fall ist, sondern durch das Wirken eines anderen. Das ist … falsch.«
Er streckte sich und verschränkte die Hände. »So kann es nicht weitergehen. Ich tue nicht einmal mehr so, als ob ich esse. Ich trinke nur noch wenige kleine Schlucke. Meine Hände, mein Gesicht und meine Füße werden allmählich gefühllos. Erst in den letzten zehn Tagen ist mir das aufgefallen, anfangs nur schwach, aber es wird schlimmer.«
»Das hört sich gar nicht gut an«, meinte sie und zögerte. »Habt Ihr gebetet?«
Er legte die Hand auf den linken Ärmel, und Ista erinnerte sich an die schwarze und graue Gebetsschnur, die er insgeheim darunter herumgewickelt hatte. »Im Leben eines Mannes kommen und gehen die Augenblicke, in denen er der Hilfe der Götter bedarf. Cattilara sehnte sich nach einem Kind, und ich erwies meine Ehrerbietung … Doch wenn der Wintervater je meine Gebete gehört hat, so zeigte er es nicht. Ich habe nie zu den Menschen gehört, die irgendwelche Zeichen empfangen haben, oder die sich so etwas einredeten. Bei mir war die Antwort auf meine Gebete stets nur Schweigen. Doch in letzter Zeit habe ich den Eindruck, dass dieses Schweigen … leerer geworden ist. Majestät …«, sein Blick, der aus dem Schatten heraus aufblitzte, schien sie zu durchbohren, »wie viel Zeit habe ich noch?«
Sie wollte sagen: Ich weiß es nicht. Aber diese Ausflucht hatte den Beigeschmack der Feigheit. Kein Arzt aus dem Orden der Mutter hätte ihm seine Frage besser beantworten können als sie. Was kann ich ihm sagen? Sie musterte ihn genau, sowohl mit ihrem gewöhnlichen Blick wie auch mit dem zweiten Gesicht. »Ich habe schon viele Geister gesehen, doch mehr alte als neue. Sie sammeln sich an, müsst Ihr wissen. Die meisten behalten die Gestalt bei, die sie zu Lebzeiten hatten, zumindest für zwei oder drei Monate. Aber sie bleichen allmählich aus und verlieren an Substanz. Ein Jahr nach dem Tod kann das zweite Gesicht normalerweise keine menschlichen Züge mehr unterscheiden, obwohl sie immer noch die grobe Form eines
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