Paladin der Seelen
Richtungen.
»Du richtest dir selbst das Haar, nehme ich an«, sagte Ista. »Wie machst du das?«
»Manchmal binde ich’s zum Zopf.«
»Und sonst?«
»Mache ich zwei Zöpfe daraus.«
Ista dachte einen Moment nach. »Hast du schon mal die Mähnen von Pferden zurechtgemacht?«
»Ja, sicher, Majestät. Ich habe sie zu kleinen Tur nierzöpfchen geflochten, mit bunten Bändern geschmückt, oder zum Tag der Mutter in ein Rautennetz mit Holzperlen gelegt, oder zum Tag des Sohnes in einen ibranischen Zopf entlang des Mähnenkamms, mit eingeflochtenen Federn verziert. Und …«
»Dann flechte mir heute einen Zopf.«
Liss atmete erleichtert auf. »Ja, Majestät.« Ihre Hände bewegten sich rasch und geschickt, viel schneller als die Hände ihrer vormaligen Zofen. Was die Ergebnisse anging – nun, für die bescheidene Sera dy Ajelo waren sie gut genug.
Die gesamte Reisegruppe versammelte sich noch einmal in dem Wäldchen, um an diesem ersten Tag von Istas Pilgerfahrt das morgendliche Gebet zu sprechen. ›Morgen‹ war jedoch eine höfliche Umschreibung, denn die Sonne hatte sich bereits einige Stunden vor den Reisenden erhoben. Der Gastwirt, seine Frau, ihre Kinder und ihr gesamte Dienerschaft fanden sich ebenfalls zu der Zeremonie ein. Offensichtlich kam es selten vor, dass ein Geistlicher von Rang und Gelehrsamkeit diesen Ort besuchte. Außerdem bestand immer die Möglichkeit – wie Ista zynisch bei sich dachte –, dass der Geistliche dieses Heiligtum minderer Bedeutung noch weiteren Pilgern empfahl, wenn er hier hinreichend umschmeichelt wurde.
Diese Quelle war der Tochter heilig, und so stand dy Cabon am Ufer des Bächleins im Halbschatten, der von gelegentlichen Sonnenstrahlen erhellt wurde, und sprach ein kurzes Frühjahrsgebet. Zu diesem Zweck verwendete er ein kleines Bändchen mit Andachten für verschiedene Anlässe, das er in der Satteltasche mit sich führte. Es war nicht genau festzustellen, weshalb gerade diese Quelle der Frühlingstochter heilig war. Der Gastwirt beteuerte, es sei jener geheime Ort, an dem sich das Wunder der Jungfrau mit dem Wasserkrug zugetragen habe. Ista fand das wenig überzeugend, denn ihr waren allein in Chalion drei weitere Orte bekannt, die für sich beanspruchten, Schauplatz dieser Legende zu sein. Doch die Schönheit dieses Ortes war allein schon Grund genug für sein spirituelles Ansehen.
Dy Cabons fleckige Roben wirkten beinahe weiß im klaren Schein der Morgensonne. Er steckte das Buch weg, räusperte sich und begann mit der eigentlichen Morgenandacht. Hinter ihnen standen schon die Tische für das Frühstück bereit, das nach den Gebeten aufgetragen werden sollte; daher war Ista zuversichtlich, dass die Predigt kurz ausfiel.
»Da dies der Beginn einer spirituellen Reise ist, möchte ich auf jene Legenden um die Anfänge zu sprechen kommen, wie wir sie alle während der Kindheit gehört haben.« Der Geistliche schloss kurz die Augen, als müsste er zunächst seine Erinnerungen ordnen. »Ich erzähle euch die Geschichte, wie Ordol sie in seinen Briefen an den jungen Prinzen von Brajar niedergelegt hat.«
Er schlug die Augen wieder auf, und seine Stimme nahm den Tonfall eines Geschichtenerzählers an: »Am Anfang, als die Welt noch jung war, war sie ein Furcht erregender Ort aus flüssigem Feuer. Als die Flammen abkühlten, entstand die Materie, die sich zu größter Stärke und Beständigkeit bildete. Doch in ihren Innern brannte weiterhin ein gewaltiger, lodernder Kern. Aus diesem feurigen Herzen formte sich allmählich die Weltseele.
Doch ein Auge kann sich selbst nicht sehen; nicht einmal das Auge der Weltseele vermag dies. Also teilte die Weltseele sich auf, um sich ihrer selbst gewahr werden zu können; so entstanden der Vater und die Mutter. Und als sie einander zum ersten Mal wahrnahmen, konnte die Liebe im Herzen der Weltseele entstehen. Die Liebe war die erste Frucht der spirituellen Welt, die sie der stofflichen Welt zurückgab, die ihr Quell und Ursprung war, Doch es war nicht die letzte Gabe, denn es folgten die Musik und die Rede.« Dy Cabon hielt inne, lächelte und holte tief Luft.
»Und der Vater und die Mutter ordneten untereinander die Welt, damit das Sein nicht sogleich wieder vergehen konnte, verschlungen vom Feuer, dem Chaos und der brodelnden Vernichtung. In ihrer frühen Liebe zueinander brachten sie die Tochter und den Sohn zur Welt, und sie teilten die Jahreszeiten untereinander auf, eine jede nach ihren besonderen Schönheiten, einem
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