Palast der blauen Delphine
mich noch einmal verstößt, trifft das Messer mein Herz.«
Schwankend zwischen Entsetzen und Zuneigung verschloß er ihren Mund mit einem harten Kuß und bog sie zurück aufs Bett.
Sie war in seinen Armen eingeschlafen. Er lag neben ihr und konnte sich nicht sattsehen an der weichen Linie ihres Halses und dem Mund, der leicht geöffnet war. Wie jung sie aussieht, dachte er und mußte lächeln. So oft hatte er sich ihre Begegnung ausgemalt, sich vorgestellt, was er sagen, was sie antworten würde. Und dann, gleich bei der ersten Berührung, war alles ganz anders gewesen als in seinen sehnsuchtsvollen Träumen – fremd und vertraut zugleich.
Er strich ihr eine widerspenstige Locke hinter das Ohr zurück. Ariadne seufzte schlaftrunken und drehte ihm den Rücken zu. Asterios stand leise auf und schlang sich eines der Tücher um die Hüften. Er goß sich Wein ein, der dunkel und aromatisch wie Waldhonig war. Durstig leerte er einen Becher und trank rasch einen zweiten. Er fing an, die Schwere in seinem Blut zu spüren, aber auch der Wein konnte die Gedanken nicht vertreiben, die in ihm aufstiegen wie finstere Nachtwolken.
Wie ähnlich sie Pasiphaë geworden ist, dachte er, während er die Schlafende betrachtete. Ihre Bewegungen, die Angewohnheit, beim Lachen den Kopf zurückzuwerfen oder die kleine Geste, mit der sie nachdenklich die Fingerspitzen aneinanderlegt, bevor sie Fragen beantwortet, die sie nicht mag.
Ariadne schlug die Augen auf, als habe sie gespürt, daß seine Gedanken bei ihr waren. Sie streckte die Arme nach ihm aus. »Laß nicht wieder Jahre vergehen, bevor du mich umarmst!« lockte sie ihn.
Erneut umschlang er sie und streichelte ihren Körper. Als seine Finger den Schnitt in ihrem Schenkel berührten, zuckte er wie verbrannt zurück.
»Schon müde, mein Herz?« fragte sie zärtlich.
»Ein wenig«, wich er aus und spürte, wie die Kehle ihm eng wurde. Was sollte nur aus ihnen und ihrer Liebe werden? Was, wenn die Große Mutter abermals Ariadnes Schoß segnete? Oder war es in Wirklichkeit ein ganz anderer Gedanke, der ihn beunruhigte? Die Vorstellung, mit ihr zusammen nach Kreta zurückzukehren – der Priester der Göttin, der seiner Schwester verfallen war? Er spürte ihre Enttäuschung. »Verzeih mir«, bat er. »Du weißt, daß ich dich mehr als mein Leben liebe. Aber ich habe Angst.«
»Bis zum Morgengrauen sind wir hier vollkommen ungestört. Und vorher lasse ich dich nicht gehen.«
»Das meine ich nicht …« Er brachte es nicht über die Lippen, fühlte sich unaufrichtig und feige.
Ariadne hatte sich mit einem Ruck aufgesetzt und musterte ihn scharf. »Sag mir, was dich so beunruhigt. Ist es eine andere? Die Ägypterin womöglich? Ich habe ein Recht darauf, es zu erfahren!«
Der Argwohn in ihren Augen ließ ihn verstummen. Wie sollte er ihr erklären, was ihn mit Hatasu verband – Einsamkeit, die Freude an spirituellen Gesprächen, die Ähnlichkeit ihrer Gedanken und Gefühle? Einen Augenblick lang war er versucht, ihr zu sagen, daß auch sie seine Halbschwester war, dann aber dachte er an das Versprechen, das er Aiakos gegeben hatte, und schwieg. Er wollte ihr jetzt auch nicht sagen, wie sehr er sich davor fürchtete, kretischen Boden zu betreten. Wie sollten sie sich zu Hause verhalten? In den Palästen waren geschwätzige Mäuler nur zu begierig darauf, Gerüchte zu verbreiten.
Und Pasiphaë? Minos? Die Brüder?
Er biß sich auf die Lippen. Er konnte nicht mit ihr darüber sprechen – nicht in dieser Situation! Er sah in ihre Augen, die wie dunkler Bernstein schimmerten, und zwang sich, zuversichtlich zu sein. Sie würden einen Ausweg finden, irgendeine List, um die anderen wie früher zu täuschen. In Phaistos konnten sie sich wieder in Auroras kleiner Taverne treffen, die schon früher ihr Unterschlupf gewesen war. Und auch für Knossos würde es eine Lösung geben.
»Sag doch was!« Unsanft rüttelte sie an seinem Arm. »Sag mir, was dich bedrückt!«
Womit sollte er beginnen? Es war nicht nur ihr ungewisses Schicksal, das ihm auf der Seele lag. Mindestens ebenso quälte ihn die Gewißheit des drohenden Endes. Seitdem er den Fuß auf diese Insel gesetzt hatte, hatte sie ihn nicht mehr losgelassen.
Zögernd begann Asterios zu sprechen. »Ariadni, Strongyle steht ein großes Unglück bevor. Der Berg wird schon bald wieder erwachen und alle töten. Die ganze Welt wird schwarz werden. Ich weiß, daß es nicht mehr lange dauern kann.«
»Sei froh, daß ich noch am
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