Palast der blauen Delphine
hellroten Mütze fiel sein Haar strähnig bis auf die Schultern. Die Stirn krausgezogen, die Lippen trotzig aufgeworfen, starrte er dem Kreter feindselig entgegen.
Das Gesicht eines gesunden Bauernjungen, dachte Minos, verschlagen und aggressiv.
Er hatte sich breitbeinig vor dem Dreifuß aufgebaut, auf dem die Kupferschale und der silberne Pokal für das Losverfahren standen. Er sah hinüber zu Deukalion, der ihm unmerklich zunickte; er wußte, was zu tun war.
Jesa, die rechts von Minos an einem Beitisch saß, schnitt eine neue Spitze in ihre Feder. Sie war ebenfalls bereit.
Minos erhob seine Hände zum Gebet. Er bat die Große Mutter um Mut und Kraft für die zukünftigen Mysten. Dann ließ er seine Arme sinken. Er spürte den Haß und die Feindseligkeit, die ihm entgegenschlugen. Er konnte die Angst beinahe riechen, die hinter der Hoffnung lauerte, die eigene Familie möge verschont bleiben und das Los die anderen treffen. Bald schon würde die mühsam geschlossene Front der attischen Noblen zerbrechen.
Am deutlichsten war die unerträgliche Spannung Phylos anzusehen. Er war sehr blaß, seine Gesichtszüge waren verkrampft. Auf einem der schmalen Papyrosröllchen in der Schale stand der Namen Lysidike – seiner geliebten Tochter.
Der alte Pallas dagegen, im schwartigen Wams wie zur Schlacht gerüstet, stand unbewegt und felsengleich, obwohl drei Lose die Namen seiner Söhne trugen. Keines ihrer Kinder mochten die Athener nach Kreta ziehen lassen. Aber der Verlust eines Sohnes wog hier schwerer als der einer Tochter. Alle wußten, was Pallas drohen konnte; doch er zeigte keine Blöße.
Zuletzt fiel sein Blick auf Theseus. Der Bastard des Königs starrte zunächst frech zurück, dann wurde er unsicher und griff nach dem Amulett über seinem Herzen, als versuche er, einen bösen Zauber von sich abzuwenden.
Minos trat lächelnd auf ihn zu. »Du wirst der sein, der die Lose zieht.« Er tat, als ob er das Erschrecken des attischen Königs nicht bemerkt hätte. »Niemand als der Thronfolger selbst ist besser geeignet, diesen Dienst an der Stadt zu leisten. Oder ist er etwa noch zu unreif für diese Aufgabe?«
Theseus warf den Kopf in den Nacken und sandte ihm giftige Blicke. Ungeduldig wischte er das flehende Flüstern seines Vaters zur Seite und sah nicht, daß Pallas grimmig lächelte. Hocherhobenen Hauptes trat er in die sorgfältig präparierte Falle.
Im Gerichtssaal herrschte Totenstille, als er das erste Los aus der Bronzeschale zog. Er entrollte es knisternd und starrte darauf, als könne er das Geschriebene nicht begreifen.
Die Männer im Saal wagten kaum zu atmen.
»Lysidike!« brachte er schließlich nach mehrmaligen Räuspern hervor.
Phylos sah plötzlich wie ein Schwerkranker aus. Langsam begann er zu wanken und wäre wohl vom Hocker gefallen, hätten nicht seine Nachbarn helfend eingegriffen.
Unschlüssig ließ Theseus seine Hände über dem silbernen Pokal verharren und suchte vergeblich Blickkontakt zu seinem Vater. Schließlich zuckte er die Schultern. Dann war wieder ein neues Los in seiner Hand.
»Hernippos!«
Pallas’ Stirnadern schwollen stärker an, als der erste seiner Söhne aufgerufen wurde. Sein Mund öffnete sich, als koste jeder Atemzug ihn unendliche Mühe.
Im Raum war es so ruhig, daß man das Knirschen von Jesas Feder hören konnte, die auf Papyrus die Namen der künftigen Mysten festhielt. Theseus, dem Schweiß auf der Stirn stand, stutzte plötzlich, weil Deukalion verschwunden schien. Im selben Augenblick realisierte er, daß dieser so dicht neben ihm stand, daß er ihn fast mit seinem Mantel berührte.
Theseus fühlte, wie sein Mund trocken wurde und zwang sich zur Ruhe. Er würde sich nicht bedrängen lassen, und wenn alle Kreter ihm auf den Leib rückten! Verstohlen wischte er seine Hand trocken, bevor er, schneller nun, wieder abwechselnd in die Schale und den Pokal faßte.
»Asteria!«
»Antiochos!«
Zwei Männer zuckten zusammen, und die Hoffnung erlosch in ihren Gesichtern.
»Koronis!«
»Nein, nicht sie!«
Theseus stieß gepreßt schon den nächsten Namen hervor. »Erystenes!«
»Der Beste von allen!« stöhnte sein Vater auf und griff sich an sein Herz.
»Menestho!«
»Daidochos!«
»Nicht alle beide – meine Zwillinge!« Ein jugendlich wirkender Rotbart mit feinen Zügen schlug die Hände vor sein Gesicht. »Nicht auch noch den Sohn – erbarme dich meiner, allmächtige Athene!«
»Damasistrate!«
Der Vater zog die Brauen zusammen und suchte,
Weitere Kostenlose Bücher