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Palast der blauen Delphine

Titel: Palast der blauen Delphine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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Voller Genugtuung beobachtete Minos von der Tribüne aus, mit welch ausgefeilter Technik Meges vorging. Er hatte die Nerven behalten, obwohl sein attischer Konkurrent ihn beim vorletzten Durchgang plötzlich um zehn Ellen übertroffen hatte. In einer schnellen, kraftvollen Drehung gelang es ihm zum Schluß, die flache Scheibe über die abgesteckte Begrenzung zu schicken.
    Stürmischer Applaus von der kretischen Gesandtschaft, während nur einzelne der attischen Höflinge klatschten. Unter ihnen Aigeus, der die ganze Zeit über nervös nach Theseus Ausschau hielt. Er wurde erst ruhiger, als endlich dessen leuchtend roter Umhang auf der Tribüne erschien.
    Jetzt aber trug Theseus nur noch den Schurz und den breiten Gürtel der Ringer. Sein Körper glänzte ölig, sein Haar wurde von einem Band aus der Stirn gehalten. Deukalion war sein Gegner.
    Beim Anblick der jungen Männer, die mit ihren Haaren und den hellen Augen fast wie Brüder aussahen, kam für Minos die schmerzliche Erinnerung zurück. Zweimal haben wir heute schon gesiegt, dachte er, und die lang vergangenen Tage waren wieder gegenwärtig, in denen sein Erstgeborener Androgeus hier in Athenai gefeierter Sieger in allen Disziplinen gewesen war. Die Athener hatten zu einem friedlichen Wettkampf geladen, in dessen Verlauf Androgeus alle Rekorde gebrochen hatte. Trunken von Wein und Siegestaumel hatte sich der kretische Prinz nachts auf den Heimweg zu seiner Unterkunft in der Gaststadt gemacht. Aber er war niemals dort angelangt.
    Vermummte hatten ihn überfallen, in eine Gasse gedrängt und mit Dolchen tödlich verletzt. Sie hatten den Sterbenden im Staub liegen lassen, nicht ohne ihm zuvor die Ringe abzustreifen und seinen Mantel zu zerreißen; die Tat sollte wie gewöhnlicher Raubmord aussehen. Auf Kreta hatte sich allerdings niemand davon täuschen lassen. Die Spur führte direkt zum attischen Hof.
    Minos hatte sich damals nicht damit begnügt, Rache zu schwören. Nachdem er dafür gesorgt hatte, daß Androgeus provisorisch begraben worden war, hatte er seine Bundesgenossen zusammengerufen. Sie hatten sich vor den Küsten Athenais versammelt, die Häfen besetzt und alle Durchgänge versperrt. Aigeus weigerte sich standhaft, die Forderungen Minos’ zu erfüllen. Die Belagerung zog sich hin, und die Vorräte in der Stadt wurden knapp. Nach zwei Mißernten gab es kaum noch etwas zu essen, und als schließlich eine Seuche ausbrach und sich rasend verbreitete, wandten sich die Athener in ihrer Verzweiflung an das Orakel von Delphi.
    Zu ihrer Überraschung gab es dem Kreter recht. Athenai habe das Gastrecht, heiligstes aller menschlichen Gesetze, geschändet. Deshalb müsse die Stadt die von Minos geforderte Buße leisten. Minos verlangte sieben Mädchen und Jungen, die ihn begleiten und neun Jahre lang auf der Insel der Großen Mutter zu Eingeweihten werden sollten. Aigeus mußte sie schließlich ziehen lassen.
    Während Theseus und Deukalion in der Arena ihre Positionen bezogen und sich mit lauernden Bewegungen umkreisten, um die Schwächen des Gegners herauszufinden, schweifte Minos abermals ab. Er sah nicht länger die Ringer, die sich umklammert hatten und hörte nicht mehr das Klatschen ihrer Körper und auch nicht den erstickten Schrei, als Theseus Deukalion zu Boden geworfen hatte.
    Es war bitter nötig, die Erinnerung an das damals begangene Unrecht wachzuhalten. Schon machten sich Überdruß und ein gewisser Unwille breit. Er spürte, wie unsicher die Stellung des attischen Königs war, wie sehr seine Adeligen versuchten, ihn unter Druck zu setzen. Achtzehn Jahre waren seit damals vergangen – für Minos nicht mehr als ein Tag. Sein Schmerz war noch immer lebendig. Dachten sie wirklich, er würde sie jemals vergessen lassen, daß sie seinen Sohn auf dem Gewissen hatten? Androgeus, auf dem seine ganze Hoffnung geruht hatte?
    Ein lauter Schrei holte ihn in die Gegenwart zurück. Auf der Königstribüne war Aigeus aufgesprungen und schlug die Hand entsetzt vor den Mund. Deukalion war jetzt obenauf und hielt Theseus in einer würgenden Kopfklammer. Erst als ihm schon die Augäpfel heraustraten, ließ er von ihm ab. Schwer atmend standen sie sich gegenüber.
    Theseus brauchte erstaunlich wenig Zeit, um sich zu erholen. Dann griff er erneut an. Längst lag sein Band irgendwo im Schmutz, und seine Haare fielen ihm ungebändigt ins Gesicht. Er packte den Arm seines Gegners und drehte ihn auf dem Rücken so weit nach oben, daß Deukalion aufschrie und langsam

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