Palast der blauen Delphine
verfehlt.« Er drehte den Pfeil in seiner Hand und berührte mit dem Finger die Eisenspitze. Sein Blick wurde kalt. »Wie man sieht, gibt nicht das Material den Ausschlag, sondern noch immer die Hand des Schützen.«
Theseus hatte sich den Weg durch die Menge gebahnt. »Und wenn das Ziel kein Holz gewesen wäre, sondern Fleisch?« fragte er provozierend.
Perfekt! dachte Minos. Er hat angebissen! Er hat den Köder geschluckt! Er ließ sich nichts anmerken und machte ein finsteres Gesicht.
»Theseus!« fuhr Aigeus ihn an. »Mußt du denn immer das letzte Wort behalten?« Zum erstenmal schien er richtig ärgerlich über den Sohn zu sein.
»Reg dich nicht auf, Aigeus«, sagte Minos und ließ die abgezogene Eisenspitze unbemerkt in seiner Gewandtasche verschwinden, »sein vorlautes Reden und seine anderen Unarten werden schon bald Vergangenheit sein. So lange er sich noch so unbeherrscht benimmt, will ich sogar auf meine Genugtuung verzichten. Was ist die Entschuldigung eines Kindes schon wert?«
»Niemand nennt mich ungestraft ›Kind‹«, ereiferte sich Theseus.
»Du hast allen Grund zur Freude, Aigeus«, sprach Minos unbeirrt weiter. »Womöglich wird dein Sohn zu den Auserwählten gehören, die das Schiff nach Kreta besteigen.«
»Das kann nicht dein Ernst sein!« stammelte Aigeus. Er streckte haltsuchend seinen Arm aus, als habe er einen Schlag erhalten.
»Du mußt mir jetzt nicht danken«, lächelte Minos breit. »Noch nicht. Aber sag selbst: Welch besseres Verbindungsglied könnte es zwischen Kreta und Athenai geben?«
»Aber er ist mein einziger Sohn, und schon weit über das Alter der anderen hinaus!«
»Wer wird denn solche Kleinigkeiten überbewerten? Seine Unbekümmertheit macht alles wett! Du wirst ihn kaum noch wiedererkennen, wenn er erst einmal neun Jahre auf unserer Insel gelebt hat.«
Er schielte hinüber zu Pallas und sah, was er vermutet hatte. Der Alte schaute ausnahmsweise nicht grimmig drein, sondern schien erfreut.
Als Minos sich zum Gehen wandte, tastete er nach seiner Beute. Die attische Pfeilspitze in seiner Gewandtasche fühlte sich kühl und spitz an.
Strongyle
Er wußte nicht, wie lange er schon im Schutz der Dunkelheit gewartet hatte. Sein Rücken preßte sich an die Wand, und er spürte die Mauer durch den dünnen Stoff. Dann hörte er leichte Schritte und das Rascheln von Gewändern. Eine kräftige Frauenhand zog ihn in den ummauerten Innenhof. Vor einem langgestreckten Gebäude, das im Mondlicht grünlich schimmerte, machte die Frau halt. Mit einer geschickten Drehung ihres verhüllten Körpers drängte sie ihn in ein Zimmer. Dann war sie wieder verschwunden.
Sein Herz pochte, als sei er ein Dieb, der sich heimlich eingeschlichen hatte. Asterios blieb auf der Schwelle stehen und sah sich um. Über einer breiten Bettstatt lagen weiche Tücher und bestickte Kissen in verschwenderischer Fülle. Gegenüber im Kamin prasselte ein Feuer. Daneben war ein Stoß Scheite zum Nachlegen aufgeschichtet. Zartblau waren die Wände bemalt; die Farben des Teppichs erinnerten ihn an das winterliche Meer. Neben dem Bett stand ein fünfarmiger Kandelaber, ein Stück entfernt das Räucherbecken. Asterios sog das würzige Aroma ein, das all seine Sinne erwachen ließ, trat zum Kamin und streckte seine Hände den Flammen entgegen.
Leises Knarzen, ein Lufthauch, als die Tür abermals aufging, und sie war da. Ariadne ließ ihren dunklen Umhang langsam von den Schultern gleiten. Darunter leuchtete Safrangelb, ein Kleid, das eng gegürtet und bis in Schenkelhöhe geschlitzt war. Als sie langsam das Taillenband löste und ihre bloßen Arme hob, um es über den Kopf zu streifen, klimperten die Reifen an ihren Gelenken. Ohne Scheu stand sie vor ihm und genoß seine Blicke auf ihrem nackten Körper.
»An meinen Armen trage ich Gold, auf meiner Haut Rosenöl.« Ihre Stimme war heiser vor Verlangen. »Ich bringe dir den Duft der Liebe.«
»Du bist schön wie die Mondbarke«, flüsterte Asterios. Er trat einen Schritt auf sie zu, um sie zu berühren.
»Nein! Ich bin nicht wankelmütig wie sie!« Mit einem Satz war Ariadne beim Bett. In ihrer Hand hielt sie einen kleinen Dolch. »Erinnere dich an dieses Bild bis ans Ende deiner Tage!« flüsterte sie. Blitzschnell zog sie die scharfe Klinge über ihren Schenkel. Hellrotes Blut rann herab und tropfte auf den Teppich.
Fassungslos starrte er sie an.
»Das war nur die Vorankündigung«, lächelte sie. Dann begann sie übergangslos zu weinen. »Wenn du
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