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Palast der blauen Delphine

Titel: Palast der blauen Delphine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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und aufgenommen hat, zu Dir, die uns alle nährt und trägt: Du bist wir, wir sind Du, sind eins: Minos, Androgeus, Deukalion – und werden es immer bleiben!«
    Da erst löste Minos sich aus seiner Erstarrung. Unbeholfen umarmte er seinen Sohn; er spürte, wie Deukalions Wärme das Eis seiner Einsamkeit zum Schmelzen brachte.
     
    Draußen blendete sie das Licht des Vormittags, und wie durch einen weißlichen Schleier, der alle Konturen unscharf erscheinen ließ, sah Minos die Gesichter der Mütter. Sie waren nicht länger am Ende des Zuges geblieben, sondern hatten sich vor dem Eingang des Tholos postiert. Unter dichten, dunkelbraunen Wolltüchern funkelten ihn haßerfüllte Augen an.
    Minos richtete sich auf. Er wußte, daß sie gefährlicher und aufsässiger waren als ihre Männer, die sich seiner Macht schon zweimal gebeugt hatten und sich zähneknirschend auch ein drittes Mal beugen würden. Anders die Frauen. Eine Schwäche nur, und sie würden wie eine Meute hungriger Löwinnen über ihn herfallen.
    Ich habe den Kampf mit den kretischen Frauen nicht aufgenommen, dachte er ingrimmig, um mich vor dem Grabmal meines Sohnes von der Rachsucht der attischen einschüchtern zu lassen. Mit einer ruhigen Geste erteilte er das Zeichen zum Aufbruch und zwang mit stechenden Blicken die Rächerinnen zurück in den Zug.
    Schwerfällig setzte sich die Prozession erneut in Bewegung. Der Spruch des Delphischen Orakels war noch immer gültig. Kein Athener wagte ernsthaft, dagegen zu opponieren.
    Jetzt, da das Meer sich weit zurückgezogen hatte, lag der Tempel auf kiesigem Grund. Vor seinem Eingang machten sie halt. Nach Westen führten drei Marmorstufen direkt zum Wasser. Die Athener begannen mit den Vorbereitungen für das Opfer, die kretische Gesandtschaft rastete ganz in der Nähe. Minos und Deukalion sonderten sich ein wenig ab und umrundeten gemeinsam das Bauwerk.
    Deukalion betrachtete den Fries, der seinen Giebel schmückte. Ein Reigen tanzender Delphine in Grau und mattem Weiß stach von dem dunkleren Untergrund ab.
    »Nach ihrem Glauben verkörpern sie die Reise der Toten über das Meer«, erklärte ihm Minos und deutete zu den Frauen hinüber, die sich geschäftig am steinernen Altar unweit des Tempeleingangs zu schaffen machten. »Schau nur«, spottete er. »Sie tun geradeso, als hätte die letzte Stunde für ihre Brut geschlagen!«
    Vor ihren Augen vollzog sich ein seltsamer Ritus. Die männlichen Athener hatten einen Kreis um den Altar gebildet und das Häuflein der künftigen Mysten umringt. Die Mütter, ebenfalls im Inneren des Kreises, warfen sich laut klagend zu Boden, schlugen mit ihren Fäusten auf die Erde und rauften ihre Gewänder, bis sie staubigen Vogelscheuchen immer ähnlicher waren. Ihr Jammern übertönte das sanfte Schlagen der Wellen.
    Minos spürte, wie der alte Ärger in ihm hochstieg. Diese Heuchlerinnen, dachte er. Wäre er damals seinem ersten Impuls gefolgt, hätte es viele Tote gegeben! Diese Törinnen – was wußten sie schon von der Qual, die sein Verzicht auf Blutrache ihm in all den Jahren bereitet hatte – auch wenn damit ein bestimmtes politisches Kalkül verbunden war?
    Sollen sie jetzt nur jammern und winseln, dachte er grimmig. Wirklich leiden werden sie erst, wenn ihre Töchter und Söhne auch nach Beendigung des Einweihungsweges nicht in ihre strohgedeckten Hütten zurückkehren, sondern lieber in Kretas Palästen wohnen wollen.
    Ein grausames Lächeln spielte um seine Lippen. Diese fromme Lüge, welche Kreta als tödliche Falle und seinen König als menschenfressendes Ungeheuer darstellte, begann ihn anzuwidern. Er beschloß, ein rasches Ende zu machen.
    Aber Theseus kam ihm zuvor. Er sprang plötzlich wie entfesselt zwischen den Liegenden herum und zerrte an ihren Kleidern. Nach und nach verstummte das Klagelied der Frauen.
    »Steht alle auf, um Apollons willen!« schrie er aufgeregt. »Gönnt den Kretern doch nicht den Triumph, euch weinen zu sehen! Habt Mut, ihr Mütter und Väter! Diesmal entlaßt ihr eure Kinder nicht in eine ungewisse Zukunft. Der Gott hat mir im Traum verheißen, daß wir alle wohlbehalten in die Heimat zurückkehren werden.«
    Er kreuzte seine Arme vor der Brust und funkelte Minos so herausfordernd an, daß Deukalion, die Hand am Dolch, unwillkürlich einen Schritt nach vorn machte.
    Minos hielt ihn zurück. »Laß ihn ruhig den Maulhelden spielen. Spätestens an Bord wird er erfahren, wie wir mit ihm und seinesgleichen fertig werden.«
    Selbstsicher

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