Palast der blauen Delphine
Haltung zu bewahren.
»Heuxistratos!«
Ein großer, grobknochiger Mann sprang von seinem Schemel auf und ballte die Fäuste. Kühl, als gelte die Drohgebärde einem anderen, schaute Minos zurück.
»Eriboia!«
»Verschont meine kleine Taube!«
Minos unterdrückte ein Lächeln. Das war die kecke Blonde, die ihm schon am Vorabend aufgefallen war. Dieses Täubchen war genau nach seinem Geschmack. Aber das war für später bestimmt. Jetzt galt es, den Einsatz nicht zu versäumen. Ein Name noch. Dann war es so weit.
»Prokritos!«
Während Pallas mit der Hand an sein Herz griff, Aigeus aus seiner Lethargie erwachte und zu ihm eilte, war Theseus im allgemeinen Aufruhr ein paar Augenblicke von dem Dreifuß abgelenkt. Minos nickte Deukalion zu.
Deukalion holte weit aus, streifte mit seinem Ellenbogen den Kelch und riß ihn zu Boden. Alle Losröllchen fielen heraus.
Minos sprang herbei und kniete nieder. Mächtigen Schwingen gleich, breiteten sich seine Arme unter dem Umhang schützend über die Lose. Er rief Aigeus. Verdutzt gehorchte der Athener.
Minos wies ihn an, eigenhändig die Röllchen zurück in den Kelch zu legen, um das Losverfahren korrekt zu beenden. Dann befahl er Deukalion, sich einen anderen Platz zu suchen, um kein weiteres Unheil anzurichten.
Alles war sehr schnell gegangen. Fassungslos hatte Theseus mitangesehen, wie Aigeus sich ungelenk gebückt und die Lose aufgeklaubt hatte. Schon stand der Kelch wieder vor ihm, als wäre nichts geschehen, und die aufkommende Unruhe im Gerichtssaal erinnerte ihn daran, daß die Prozedur noch nicht abgeschlossen war.
Abermals faßte er in die Schale. Er bemerkte nicht, daß Jesa sich vor Anspannung auf die Lippen biß und Deukalion zu Boden starrte, um sich nicht zu verraten.
»Hippodameia!« sagte Theseus tonlos.
Der letzte der Mädchennamen traf Kodros, seit vielen Jahren Stallmeister am attischen Hof, wie ein Schlag. Er hielt sich die Ohren zu, als könne er damit das Gehörte wieder ungesagt machen.
Minos und Deukalion tauschten einen schnellen Blick. Aufgeschreckt wie ein Tier, das die Gefahr wittert, den Jäger aber noch nicht entdecken kann, hielt Theseus inne. Er zog sich die Mütze vom Kopf und spürte die Blicke der Athener, die wie ein Mann jede seiner Bewegungen verfolgten. Seine Hand im Pokal betastete die verbliebenen Lose. Schließlich griff er zu.
Er öffnete den Mund. Schloß ihn wieder.
Ja, frohlockte Minos, jetzt, Bastard, gehörst du mir! Gut, daß ich dem Schicksal wenig Entscheidungsfreiheit gelassen habe. Jedes der Lose aus meinem Ärmel trug deinen Namen.
Mit stummer Genugtuung beobachtete er, wie Aigeus’ Augen sich angstvoll weiteten. »Theseus?« brachte er schließlich hervor. »Ist der Name – Theseus?«
Ein fast unmerkliches Nicken.
»Das kann nicht wahr sein! Nicht mein Sohn!« schrie Aigeus mit schriller Stimme.
Im Saal wurde es unruhig; Minos zuckte mitleidlos die Achseln. »Ist nicht der König verpflichtet, mit gutem Beispiel voranzugehen?« Schadenfreude zeigte sich in den Gesichtern. Bevor Meinungen und Widersprüche laut werden konnten, rief er abermals die Göttin an. »Schenke den Mysten, die das Los gewählt hat, Einsicht und Demut, um das gnädige Walten Deines göttlichen Willens zu begreifen!«
»Ich hasse dich, Minos von Kreta«, flüsterte Theseus leise. »Den Tod wünsche ich dir!«
Dann waren plötzlich die Mütter da. Wie eine Schar schwarzer Krähen folgten sie dem Zug, der sich schon im Morgengrauen auf den Weg zum Delphintempel gemacht hatte. Noch am selben Tag würden die Schiffe den Hafen von Phaleron verlassen. Vor der gefährlichen Reise nach Kreta sollte Apollo ein Opfer gebracht und um Schutz und Hilfe gefleht werden. Sie schleppten geflochtene Proviantkörbe für die Überfahrt mit sich, so schwer mit Wasserkrügen, Brot, Räucherfisch und Schinken gefüllt, daß sie sie immer wieder absetzen mußten.
Vor den Frauen marschierten die attischen Männer, erstarrt in Schmerz und unterdrückter Wut. Zwischen ihnen und den Kretern, die die Prozession anführten, bildeten die ausgelosten Töchter und Söhne einen traurigen Keil. Die Mysten wirkten verängstigt und hielten sich eng zusammen. Es war eine von Jesas zahlreichen Aufgaben, sich um sie zu kümmern. Zuvor hatte sie die Verladung des Gepäcks und der Gastgeschenke überwacht und zusammen mit Minos eine gründliche Inspektion der attischen Segelschiffe vorgenommen. Schließlich hatten sie sich für eine der neuen Trieren entschieden, die
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