Palast der blauen Delphine
es allerdings weder an Schnelligkeit noch an Eleganz mit ihren kretischen Vorbildern aufnehmen konnte.
Als sie die Weggabelung erreichten, waren die Morgennebel längst gewichen. Nach links führte ein geschlungener Pfad hinab zum Delphintempel. Minos aber wandte sich nach rechts. Er blickte kurz über die Schulter.
Ja, sie waren hinter ihm, ganz so, wie er es geplant hatte! Er wußte, wie sehr die Athener diese Prozession zum Grab seines Sohnes haßten, zu der er sie nun schon zum dritten Mal zwang. Er würde sie niemals aus dieser Pflicht entlassen, ebensowenig wie die, die nach ihm kommen würden. Für alle Zeiten sollten sie erinnert werden an das Verbrechen, das sie an Androgeus begangen hatten.
Unwillkürlich beschleunigte Minos seine Schritte, so daß Deukalion und Aiakos kaum mithalten konnten und der restliche Zug ein ganzes Stück zurück blieb. Schließlich begann er zu laufen.
Außer Atem blieb er vor dem Tholos stehen. Der steinerne Kuppelbau ragte als schwarzes Mahnmal in den Frühlingshimmel. Minos spürte, wie der alte Schmerz in ihm aufbrach. Er stand vor der Pforte zu Androgeus’ Totenkammer, und ihm war, als wären seit dem Mord nicht viele Jahre, sondern nur Tage vergangen.
Inzwischen hatten die beiden anderen ihn eingeholt. Ohne sie eines Blickes zu würdigen, entriegelte er die Bronzetür. Ungeduldig nahm er Aiakos die Fackel aus der Hand. »Du kommst mit mir«, sagte er kurzangebunden zu Deukalion. Aiakos blieb als Hüter der Schwelle zurück.
Der Vorraum wurde von vier voluminösen Säulen aus Ebenholz gestützt. Minos ließ seinen Augen kaum Zeit, sich an das matte Licht zu gewöhnen, das durch zwei Schächte von außen einfiel. Er war schon an der Tür zur Grabkammer, da drehte er sich unvermittelt zu Deukalion um.
»Warte hier, bis ich zurück bin!«
Mit seiner Fackel entzündete er die zahlreichen Ölnäpfchen, bis der Raum in einem Meer schwimmender Lichter erglühte. Hinter der nächsten Tür war er an seinem Ziel angelangt. Über ihm spannte sich die Pfeilerkrypta, und überall in den dunklen, glatten Wänden war das Zeichen der heiligen Doppelaxt eingeritzt. Vor ihm ruhte der Sarg auf einem gesprenkelten Granitquader.
Bei seinem Anblick fühlte Minos sich kraftlos wie am Ende einer langen Reise. Er verspürte den Wunsch, sich auf den steinernen Stufen auszustrecken und seinen Kopf für immer auf den Sarg zu betten. Es kostete ihn einige Überwindung, diesem Impuls nicht nachzugeben und trotz seiner Erschöpfung die rituellen Handlungen zu vollziehen.
Er steckte seine Fackel in eine der Wandhalterungen, die dem schillernden Obsidian entsprangen, und kniete vor dem Schrein nieder, der die Doppelaxt enthielt. Mit geschlossenen Augen begann er zu beten, bis er schließlich die Allgegenwart der Göttin spürte. Zu seinem Erstaunen erschien sie ihm hier in diesem schwarzen Grab auf feindlichem Boden machtvoller als in ihren kretischen Heiligtümern.
Schwerfällig stand er wieder auf und trat zum Sarkophag. Seine Augen blieben trocken. Er hatte keine Tränen mehr. Vor achtzehn Jahren, am geöffneten Grab seines Sohnes, hatte er zum letzten Mal geweint. Den schmutzigen Rupfen, in den die Leiche gewickelt war, hatte man zurückgeschlagen, erste Spuren von Verwesung waren bereits zu sehen gewesen.
Noch heute brannte der Geschmack von Fäulnis auf seiner Zunge, wenn er an die Nacht dachte, in der er eigenhändig Androgeus’ Leichnam gewaschen und gesalbt hatte. Nur ein Mundtuch aus Gaze hatte ihn vor dem durchdringenden Geruch geschützt. Wieder sah er den toten Sohn vor sich, sein schmales Gesicht mit Pasiphaës Nase und seinem stolzen Mund, den die große Schnitterin für immer verschlossen hatte. Um Androgeus nicht die Knochen zu brechen, hatte er damals auf das traditionelle Wickeln der Knie an die Brust verzichtet. Aber er hatte dafür gesorgt, daß frische Leinentücher, verschwenderisch mit Myrrhenöl getränkt, seinen ermordeten Erstgeborenen bedeckt hatten.
Erneut überflutete ihn die Trauer. Das fähigste seiner Kinder war tot! Welche Wende hätte es für Kreta bedeutet, wenn ihm der entscheidende Schritt gelungen wäre: anstelle der jüngsten Tochter künftig den ältesten Sohn zum Herrscher der Insel zu machen. Androgeus hatte alle Voraussetzungen dafür mitgebracht. Er war ein Eingeweihter des alten, weiblichen Weges und besaß genügend männliche Voraussicht und Stärke. Androgeus hätte das Sinnbild eines neuen Herrschertyps werden können, der die Überlieferung
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