Palast der blauen Delphine
ihrem Beispiel.
Minos trat die Flucht nach vorn an und schien überall zugleich zu sein, am Hafen, wo er die Schiffe kontrollierte, als sei täglich mit neuen Unwettern zu rechnen; in der Stadt, wo er Brand- und Wasserschäden besichtigte und Wiederaufbaumaßnahmen einleitete. Zudem ordnete er an, daß die Angehörigen der Toten mit großzügigen Sonderzulagen bedacht wurden. »Sie sind in unserem Dienst gestorben«, erwiderte er, als Jesa sich über die außerplanmäßigen Ausgaben beschwerte. »Wir können sie nicht wieder lebendig machen, aber dazu beitragen, daß wenigstens die Lebenden keine Not leiden müssen.«
Da die Königin in ihrem Zwiegespräch mit der Göttin für die Außenwelt verstummt war, ließ er eine Trauerfeier vorbereiten. Asterios und Phaidra sollten gemeinsam das Opfer für die Große Mutter bringen.
Phaidra schien geistesabwesend. Ihre Lider waren gerötet, und es schien sie Mühe zu kosten, konzentriert zuzuhören. Als Asterios in einem Nebensatz die Heilige Hochzeit erwähnte, wechselte sie rasch das Thema. Er drang nicht weiter in sie, betrachtete sie aber besorgt. Konnte das der Nachhall jener Nacht der Nächte sein, die ihm seinen inneren Frieden zurückgegeben hatte? Im Lauf ihres Gesprächs wurde sie ruhiger, wie er es von ihr gewohnt war. »Mein Vater zeigt sich ungewöhnlich generös«, sagte sie, als schließlich der Ablauf der Zeremonie geklärt war. »Ich frage mich, was das zu bedeuten hat.« Sie hatten die große Halle verlassen, den Aufgang zum Zentralhof genommen und schauten nun über die Messaraebene. Von hier oben waren die Sturmschäden kaum zu sehen. Die Felder lagen unter einer hellen Septembersonne, die schon das Nahen des Herbstes verhieß. Mit der großen Flut war auch der Sommer zu Ende gegangen. »Meinst du, er versucht, die erzürnte Göttin zu besänftigen – auf seine Weise?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Asterios überrascht. Einmal schon hatte sie ihn etwas Ähnliches gefragt, damals, als die Flüchtlinge nach Kreta gekommen waren und keine der Weisen Frauen seinen Visionen glauben wollte.
»Alles verändert sich, Asterios«, sagte sie leise. »Nichts bleibt, wie es war. Ich fühle, daß etwas auf uns zukommt. Etwas Bedrohliches. Ich spüre es. Und ich habe Angst.«
Sie ist kein Mädchen mehr, dachte Asterios voller Zärtlichkeit. Sie ist zur Frau geworden. Und sie ist klug und feinfühlig.
»Hilf uns, Bruder«, bat sie ihn. »Was sagen deine Bilder? Du bist der einzige, der die Zukunft sehen kann.«
»Ich spüre eine innere Scheu davor«, erwiderte er, entwaffnet von ihrer Aufrichtigkeit. »Aber du hast recht, Phaidra. Es ist meine Aufgabe, zu sehen, gleichgültig, ob man mir glaubt oder nicht. Ich verspreche dir, das blaue Licht zu rufen. Schon bald.«
Sie legte ihre Arme um seinen Hals, und er spürte ihren schlanken Körper. Sie roch nach einem duftigen Öl, das gut zu ihr paßte. Sie löste sich wieder von ihm, blieb ihm aber nah. Sie war die einzige, für die er brüderliche Gefühle empfand. Xenodike und Akakallis waren ihm fremd geblieben. Nur Dindyme, die Tochter der Ältesten, mittlerweile zu einem hübschen, dunkelhaarigen Mädchen herangewachsen, lief ihm nach wie ein Hündchen und wäre am liebsten den ganzen Tag nicht von seiner Seite gewichen. Deukalion ging eigene Wege, und Katreus und Glaukos waren zu abgeschlossen in ihrer Verbundenheit, um einem Dritten Zugang zu gewähren.
Und Ariadne? Er hatte nie die Schwester in ihr gesehen, immer die Geliebte. Auch wenn die Nacht mit Hatasu ganz neue Welten für ihn erschlossen hatte. Er lächelte unwillkürlich. Es war wunderbar, daß es sie gab. Daß sie ihn liebte.
»Es war nicht leicht für dich, mit uns – mit allem hier«, sagte Phaidra. Langsam verzogen sich die Wolken und gaben den blauen Berg frei. »Du bist immer ein Außenseiter gewesen, Asterios. Vielleicht mußte das so sein. Wer im Topf mitschwimmt, hat Schwierigkeiten, den Überblick zu behalten.« Sie lächelte, wurde aber schnell wieder ernst. »Willst du wissen, was ich denke?«
»Ja«, bat er. »Sag es mir.«
»Die Große Mutter liebt uns nicht mehr«, flüsterte sie. »Ich glaube nicht, daß Sie nur zürnt. Sie hat uns verlassen! Ich spüre Sie nicht mehr, wenn ich im Hain bete oder im Tempel opfere.«
»Seid wann quälen dich diese Gefühle?«
»Das ist Gewißheit«, erwiderte sie bedrückt. »Kein Gefühl! Ich weiß es, und die Insel weiß es auch. Die großen Regenfälle waren Ihre Abschiedstränen. Was sollen
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