Palast der blauen Delphine
sagst ja gar nichts!«
Wie er diesen vorwurfsvollen Ton haßte! Es wurde Zeit, daß er endlich ganz das Ruder übernahm. »Flucht ist keine schlechte Idee.« Er griff nach ihrer Hand und sprach schnell weiter. »Allerdings können wir nur alle zusammen nach Athenai zurück. Das habe ich Apollo geschworen.«
»Wir brechen in der Dunkelheit auf«, schlug Ariadne vor. Allein der Gedanke, Kreta an seiner Seite zu verlassen, war so aufregend, daß sie Angst hatte, den Kopf zu verlieren. »Ihr habt gelernt, wie man sich nach den Gestirnen richtet. Wir verlassen die Insel im Schutz der Nacht.«
»Das führt zu nichts«, wandte Theseus ein. Er stapfte ruhelos von einer Wand zu anderen. »Minos hätte uns bald eingeholt.«
»Nicht, wenn wir seine Schiffe in Brand stecken, bevor wir lossegeln«, sagte Ariadne leise. »Ich weiß auch schon, wann es am günstigsten wäre.«
Er sah sie überrascht an.
»Jetzt. In den nächsten Wochen.« Ihre Augen glänzten, als stünde sie unter berauschenden Mitteln. Aber sie fühlte sich klar wie nie zuvor. »Alle Kymben und Triakontoren sind jetzt in Amnyssos, weil sie den Winter über in die Werften gebracht werden. Noch liegen sie im Hafenbecken. Mit einem einzigen Streich könnten wir alle vernichten.«
»Das klingt gut«, lächelte Theseus. »Aber ist noch nicht genug. Wir müssen sichergehen, daß Kreta sich von diesem Schlag nicht wieder erholt. Es darf nie mehr dazu kommen, daß Minos attische Kinder auf seine Insel verschleppt.«
Ariadne unterdrückte ein Gähnen. So vieles hätte sie ihm noch sagen können, über Kreta, über Minos, über ihre Mutter. Aber womit beginnen? Wo aufhören? Es war beinahe unmöglich. Theseus hatte nichts von dem verstanden, was wirklich wichtig war. Pasiphaës Haß war tiefer und unversöhnlicher als der ihres Gatten. Niemals wäre sie zu einem Frieden mit Athenai bereit. Niemals! Dazu würden sie auch keine verkohlten Schiffsrümpfe bringen. Das einzige, was für sie zählte, war, daß Athener ihren Sohn ermordet hatten. Diese Schuld bestand für sie bis ans Ende aller Tage.
Ob Theseus das jemals begreifen würde? Er war bereit zu handeln – sie war bereit, ihm dabei zu helfen. Wichtig war, daß sie Kreta so schnell wie möglich verließen, um gemeinsam ein neues Leben zu beginnen. »Und wie sollen wir das anstellen? Willst du meinen Eltern den Hals durchschneiden?«
»Mir geht es nicht um Mord«, sagte Theseus rasch. »Wenn ich auch bereit bin, für meine Stadt zu kämpfen und zu sterben. Außerdem gibt es etwas, das sie, das alle tiefer treffen würde als der Tod.«
»Was meinst du?« Auf einmal verspürte Ariadne einen Anflug von Angst. Seine Augen waren kalt und glatt. Ohne jedes Mitgefühl.
»Das Labyrinth«, sagte er leise. »Wir müssen das Labyrinth zerstören und die Stiermaske in unseren Besitz bringen. Nur so haben wir die Gewißheit, daß der alte Spuk auch wirklich für immer vorbei ist.«
Sie mußte an Asterios denken, den Pasiphaë zum Hüter des Heiligtums bestimmt hatte. Er trug die Maske. Und sie hatte ihn verraten. Deswegen schwebte er in Gefahr. Theseus, das wußte sie, würde ihn nicht schonen, um zu erreichen, was er sich vorgenommen hatte.
»Das klingt einfacher, als es ist«, antwortete sie. »Nur Eingeweihte kennen den Weg, der wieder hinausführt. Jeder andere würde unweigerlich den Tod finden.«
Theseus packte unsanft ihr Handgelenk und zog sie hoch. »Nun«, murmelte er, den Mund an ihrem Hals. »Ist meine kleine kretische Prinzessin vielleicht keine Eingeweihte?«
Ariadne riß sich los. »Und unser Kind?«
Dumpfes Muttertier! dachte er. Schon jetzt kämpft sie mit Zähnen und Klauen um ihre Brut.
»Das kannst du nicht von mir verlangen – das nicht!« schrie sie.
»Und warum nicht?« fragte er ärgerlich. »Ich denke, du haßt Kreta wie ich?«
»Aber ich gehe nicht für dich ins Labyrinth und hole die Maske!« Ihre Stimme überschlug sich beinahe. »Das ist wirklich zuviel verlangt!«
Wieder zog er sie an seine Brust und fuhr über ihren Rücken, während seine Augen ins Leere blickten. Mechanisch kraulte er ihre Hinterbacken. »Wer sagt denn, daß du für mich gehen sollst? Wir gehen zusammen, mein Täubchen«, murmelte er. »Wir werden künftig alles gemeinsam machen.« Er lachte heiser. »Bis zum letzten Atemzug. Das verspreche ich dir, Ariadne.«
Ariadne blieb keine Zeit mehr, sich weiter um ihre Übelkeit zu sorgen. Schon frühmorgens war sie auf den Beinen, um alles herauszufinden, was
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