Palast der blauen Delphine
Töchter – meine Phaidra!« Ihre Stimme wurde gellend.
Akakallis legte tröstend den Arm um ihre Schultern. »Mutter«, sagte sie leise. »Bitte beruhige dich!«
»Es sieht so aus, als seien alle unsere schnellen Schiffe verbrannt«, sagte Minos zornig. »Ohnehin könnten wir sie nur verfolgen, nicht angreifen – zumindest nicht, solange sie Ariadne und Phaidra an Bord haben.« Er bückte sich und schnitt mit seinem Dolch ein Stück der weißen Schnur ab, die neben dem Thron wirr auf dem Boden lag. »Das haben meine Wachen vor dem Labyrinth gefunden.« Er blieb damit vor Ikaros stehen und hielt es ihm hin. »Hast du diesen Faden schon einmal gesehen?«
»Nein«, erwiderte Ikaros. »Noch nie.«
»Überleg dir deine Antwort gut«, sagte Minos scharf. »Ich frage dich noch einmal mit allem Nachdruck: Kennst du dieses Garn?«
»Ich kenne es nicht«, sagte Ikaros ruhig.
Minos rückte näher. »Wo ist dein Vater, Ikaros?« fragte er. »In seinen Gemächern ist er nicht.«
»Ich weiß es nicht«, entgegnete Ikaros wahrheitsgemäß und sah hinüber zu Deukalion, der seinen Kopf beharrlich gesenkt hielt. »Ich habe ihn seit gestern nicht mehr gesprochen.«
Es war so still im Raum, daß man das Flackern der Fackeln hören konnte. Sie waren überflüssig geworden. Draußen war es schon Tag. Aber niemand stand auf, sie zu löschen.
Schließlich erhob sich Ikaros schwerfällig. »Ich gehe wohl besser«, sagte er leise. »Ihr wißt, wo ihr mich findet.«
Schleppend wie ein Kranker bewältigte er die kurze Strecke bis zur Tür. An der Schwelle blieb er nochmals stehen. Er schaute zu Iassos hinüber, der unbehaglich auf der Stelle trippelte. »Wird Asterios sterben?« fragte er gequält.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte der Parfumhändler leise. »Es steht nicht gut um ihn.«
»Er ist mein bester Freund. Der einzige, den ich je hatte. Wenn er stirbt, will ich auch nicht mehr leben.«
Niedergeschlagen und unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen entfernte er das gelackte Pergament vor dem Fenster. Frische Herbstluft strömte herein. Ikaros setzte sich an den Tisch und legte den Kopf auf die Arme.
Ein kratzendes Geräusch ließ ihn hochfahren. Kamen sie etwa schon, ihn zu holen? Wo würden sie ihn hinbringen? Was hatten sie mit ihm vor?
Aber die Tür öffnete sich langsam, und er schaute auf den schütteren Scheitel seines Vaters. Überrascht sprang er auf.
»Wo kommst du her? Was hast du mit der ganzen Sache zu tun?«
Daidalos räusperte sich mehrmals. Es fiel ihm unendlich schwer, Ikaros seinen Verrat zu gestehen. Schließlich siegte die Liebe zu seinem Sohn. Er mußte ihn retten. Sie schwebten beide in größter Gefahr. Die Aufregung überall in den Gängen hatte ihm genug gesagt. »Wir müssen sofort fliehen, Ikaros! Der Ballon ist bereit, der Wind gut. Komm, ich weiß einen Gang, der kaum benutzt wird. Es ist nicht weit bis zum Hügel.«
»Bist du wahnsinnig geworden?« Ikaros schien gar nicht gehört zu haben, was er gesagt hatte. »Was hast du getan?«
»Leider ging alles schief«, erwiderte Daidalos. »Ich hätte es wissen müssen. Theseus ist ohne mich losgesegelt, nachdem ich ihm geholfen habe, aus dem Labyrinth herauszukommen. Und Ariadne mit ihm. Weißt du, daß sie von ihm schwanger ist? Wahrscheinlich wird ihr Kind einmal der künftige Herrscher von Athenai!«
Ikaros fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. »Ariadne? Du lügst! Das ist unmöglich!«
»Doch, doch«, beharrte Daidalos. »Ich weiß es genau! Sie haben es mir selbst gesagt – beide!«
»Willst du damit sagen, daß Theseus von Ariadne ins Labyrinth gebracht wurde?« Er schüttelte den Kopf. »Ich glaube es nicht. Nicht sie!«
»Doch, sie war es«, bekräftigte Daidalos. »Wie sie es angestellt hat, entzieht sich meiner Kenntnis. Von mir stammt nur der Faden, der ihn wieder ans Licht geführt hat. Ich nehme an, es ist geglückt. Sonst wären sie wohl kaum von der Insel verschwunden.«
Ikaros starrte ihn fassungslos an. »Und Phaidra? Und Asterios? Weißt du, daß er sterben wird? Theseus hat ihn im Dunkeln abgestochen wie ein Schlachttier.«
»Von Phaidra weiß ich nichts«, versicherte Daidalos. Seine Obsidianaugen schimmerten unergründlich. »Und was deinen Freund Asterios betrifft, so tut es mir aufrichtig leid. Ich konnte nicht ahnen, daß Theseus auf ihn losgehen würde.«
Ikaros wandte sich ab. »Geh, Vater«, sagte er leise. »Ich kann deinen Anblick nicht länger ertragen. Laß mich allein. Ich muß
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