Palast der blauen Delphine
nachdenken.«
Daidalos folgte ihm bis zum Fenster. »Nein, mein Sohn«, sagte er. »Ich werde dieses Zimmer nicht verlassen. Es sei denn, mit dir. Ich hätte mich viel früher um dich kümmern sollen. Wäre Naukrate nicht so früh gestorben, vielleicht wäre alles anders gekommen. Was haben wir hier noch verloren, Ikaros? Sie werden dich schnell fallen lassen. Es nützt nichts, daß du unschuldig bist. Du bist mein Sohn. Und du bist ein Fremder für sie. Selbst Deukalion macht da keine Ausnahme. Oder doch? Habe ich mich vielleicht getäuscht? Sag es mir, mein Sohn!«
Ikaros war zusammengezuckt. »Laß wenigstens ihn aus dem Spiel!« verlangte er.
»Ist er etwa aufgestanden für dich? Hat er an deine Unschuld geglaubt?«
Ikaros schwieg. »Ich kann nicht mehr«, sagte er schließlich tonlos. »Es ist unerträglich. In einem einzigen Augenblick bricht mein ganzes Leben entzwei. Nichts als häßliche, schmutzige Scherben halte ich in der Hand.«
Daidalos zog ihn ein Stück in Richtung Tür. »Du grübelst zu viel. Du bist jung, Ikaros! Vor dir liegt das ganze Leben. Komm, wir fliegen zusammen in die Freiheit!« Ungeduldig zerrte er ihn weiter. »Komm schon, komm mit mir!«
Ikaros schaute ihn an und verzog den Mund zu einem Lächeln. »Wir fliegen, hast du gesagt? Über das Wasser?« Seine Stimme klang erregt. »Weit?«
»Ja, wir fliegen, bis wir die nächste Insel erreicht haben«, bekräftigte Daidalos. Er war glücklich, daß sein Sohn sich endlich für seine Idee zu interessieren begann. »Zu Land und zu Wasser sind sie uns wahrscheinlich überlegen mit ihren Pferden und ihren schnellen Schiffen. In der Luft nicht.« Daidalos breitete seine Arme aus und machte flatternde Bewegungen, als wären sie zwei mächtige Schwingen. »Wir sind die Könige der Lüfte! Was ist, Ikaros? Worauf wartest du noch – komm mit mir!« Sein Ton wurde einschmeichelnd, als locke er ein widerspenstiges Kind.
So hatte er mit ihm gesprochen, wenn er nachts weinend aus bösen Träumen erwacht war. Er erinnerte sich noch genau an die Stimmlage. Meist war es ein Versprechen gewesen, das Daidalos allzu schnell wieder vergessen hatte.
»Kommst du?«
»Ja«, sagte Ikaros. »Ich komme.«
Ariadne hatte nichts dem Zufall überlassen. Schon Tage vorher stand ihr Entschluß fest. Sie würde sich an Bord des attischen Seglers schleichen und sich dort verstecken. Nur so konnte sie wirklich sicher sein, daß Theseus sie auf seinem Weg in die Heimat mitnehmen würde. Sie hätte nicht sagen können, woher dieses unsichere Gefühl stammte, das sie viele Nächte beunruhigt hatte. Spätestens seit dem Gespräch mit Daidalos aber hatte es sie nicht mehr verlassen. Wie verwandelt war Theseus seitdem gewesen, kaum noch wiederzuerkennen. Aus dem temperamentvollen, leichtsinnigen Rabauken war ein geschickt taktierender, überlegter Planer geworden. Ihm konnte, ihm durfte sie nicht mehr trauen.
Er berührte sie kaum noch, und manchmal entdeckte sie eine Kälte in seinem Blick, die sie erschreckte. Schnell schob sie alles auf ihren Zustand, der ihm eher lästig schien. Aber tief im Inneren blieb ein schmerzhaftes Mißtrauen, das sie vorsichtig werden ließ. Sie war sehr allein in diesen Tagen, ging viel spazieren, sah sich die Dinge um sie herum aufmerksam an, um sich später an alles genau erinnern zu können. Sie war froh, von Kreta wegzukommen und ihr bisheriges Leben hinter sich zu lassen. Dem Kind, das in ihr wuchs, vertraute sie in langen Selbstgesprächen die verschiedenen Schritte ihres Vorgehens an. Dann erst zog sie nach reiflichem Überlegen Antiochos ins Vertrauen. Er hatte sie einmal nach einer Liebesnacht in den frühen Morgenstunden entdeckt. Seitdem wußte er von ihrer Beziehung zu Theseus.
Es war nicht schwierig gewesen, ihm so zu schmeicheln, daß er sich ausgezeichnet fühlte. Nicht so einfach war, ihm klarzumachen, warum er von ihr und nicht von Theseus über ihr Vorhaben informiert wurde. Dann aber siegte seine Vorfreude auf zu Hause. Neben Prokritos, der Theseus ganz und gar ergeben war, hatte Antiochos von Anfang an zum engsten Kreis der Rebellen gehört. Er haßte Kreta und war glücklich, die Insel und ihre Bewohner schneller als erwartet zu verlassen. Obwohl sie ihn als Hitzkopf einschätzte, erschien er Ariadne dennoch vertrauenswürdig; er würde Theseus’ sichere Flucht vom Labyrinth zum Hafen gewährleisten.
Die Stunden an Bord, die sie in der muffigen Kajüte verbrachte, waren die schlimmsten ihres Lebens. Wider Willen
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