Palast der blauen Delphine
kam ihr andauernd Asterios in den Sinn, der jetzt im Bauch der Erde das Heiligtum gegen den Eindringling verteidigen mußte. Theseus würde ihn nicht schonen. Er haßte ihn mehr als den Tod, obwohl sie ihm niemals von ihrer Beziehung zu ihm erzählt hatte. Oft schon war ihr eine Bemerkung in dieser Richtung auf den Lippen gelegen; im letzten Moment aber hatte sie immer geschwiegen. Sie strich über ihren Bauch. Sie mußte lernen, sich künftig noch besser vorzusehen. Athener, das hatte sie bereits erfahren, waren noch intoleranter und verständnisloser als Kreter. Vermutlich hätte Theseus sie sofort über Bord werfen lassen, wenn sie etwas über die Liebe zu ihrem Halbbruder verraten hätte.
Sie atmete erst auf, als die attischen Mysten auf dem Schiff angelangt waren. Alles war nach Plan verlaufen. Drüben, am Kai, begannen die Flammen zu lodern. Als sie die lauten Schreie der anderen hörte, kroch sie aus ihrem Versteck. Es war ein seltsames Gefühl, dabei zuzusehen, wie die Flotte ihres Vaters verbrannte. Sie war auf Schadenfreude gefaßt gewesen oder sogar Triumph. Aber in ihr blieb es still und freudlos. Dafür dachte sie umso mehr an ihre schöne, unnahbare Mutter. Für einen Augenblick glaubte sie sogar, ihren schmalen Kopf im Widerschein des Feuers am Himmel zu erkennen, aber dann war diese Illusion vorbei. Sie war sich sicher, daß sie Pasiphaë niemals wiedersehen würde.
Als Theseus ihr endlich gegenüberstand, sah sie als erstes die Stiermaske an seinem Gürtel. »Und Asterios?« fragte sie beklommen.
»Der Minotauros?« Sein Lachen war roh und grausam. »Stampft für immer mit seinen blutigen Hufen im Bauch der Erde. Dort, wo seine Heimat ist.«
Sie erstarrte und kämpfte gegen eine aufkommende Wehmut. Aber für Trauer war jetzt keine Zeit. Die Handhabung des unbeweglichen Seglers erforderte jede Hand. Das Schiff war nicht das schnellste, aber Theseus hatte darauf bestanden, auf ihm zu entfliehen. »Auf ihm sind wir nach Kreta gesegelt; auf ihm kehren wir wohlbehalten wieder heim. Apollons ganz besonderer Schutz ruht auf ihm. Alles wird so werden, wie es mir damals mein Traum verheißen hat.«
Er schien recht zu behalten. Nachdem sie sich aus dem engen Hafenbecken manövriert hatten, ließ kräftiger Wind das schwarze Segel knattern und trieb sie schnell vorwärts. Von kretischen Verfolgern war nichts zu sehen. Wenn der Wind so beständig blies, wäre Naxos, wo sie Proviant und frisches Wasser aufnehmen wollten, schon bald erreicht.
»Wie lange werden wir dort bleiben?« hatte sie gefragt.
»Mal sehen«, hatte Theseus gemurmelt. »Typisch, daß du dich darum sorgst, während wir Athener um unseren verlorenen Kameraden trauern.«
Alle an Bord waren bedrückt. Denn trotz der Vorfreude auf Athenai lag ein Schatten über ihnen. Einer von ihnen war unbemerkt in Amnyssos zurückgeblieben: Erystenes. Keiner konnte so ausdauernd laufen wie er; deshalb war es seine Aufgabe gewesen, diejenigen Schiffe in Brand zu stecken, die am weitesten entfernt lagen. Ein paar hatten noch gesehen, wie er, die Fackel in der Hand, leichtfüßig am Kai entlang gelaufen war. Danach war er verschwunden.
War er im Hafenbecken ertrunken, bei dem Versuch, ihnen nachzuschwimmen?
Die schreckliche Gewißheit, was mit ihm passieren würde, fiele er Minos in die Hände, lastete schwer auf allen. Einige hatten sogar den Vorschlag gemacht, zurückzusegeln, aber Theseus’ Blick hatte sie sofort zum Schweigen gebracht.
Ariadne verhielt sich ungewohnt still. Sie verspürte wenig Lust, in die engen Kajüten zu gehen. Eine von ihnen war seit ihrem Ablegen fest verschlossen, aber sie kümmerte sich nicht darum. Sie spürte den Wind in ihrem Haar, Gischt und Salz auf ihrer Haut. Asterios, ihre Eltern und Geschwister, die Paläste der Insel, das alles war schon so unendlich weit entfernt. Mit jeder Elle, die sie zurücklegten, wurde ihr bisheriges Leben blasser, mit jeder Elle, die sie Athenai näherkamen, wuchs ihre Freude, wenn sie an die Geburt ihres Sohnes dachte. Er würde einmal König der Stadt werden, der das Morgen gehörte! Sie lächelte zu dem geflickten schwarzen Ungetüm hinauf, das sich im Wind blähte.
Sie waren tatsächlich in der Luft. Unter ihnen lag das Meer wie eine metallische Fläche, auf der die Wellen wie feingezeichnete Einkerbungen wirkten. Tiefes Blau wechselte mit Türkis, und es gab Wasserinseln, die in einem zornigen Grün schimmerten. Der Himmel war weit und hell, und die Sonne, die allmählich auf den
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