Palast der blauen Delphine
läßt!«
Der ganze Palast schien schon auf den Beinen, aber es war nicht die fröhliche Morgenstimmung, die sonst herrschte. Im Küchengeschoß sah er kein Licht. Dafür traf er auf allen Gängen Leute an, Priesterinnen, Frauen und Männer, die zum Hofstaat gehörten, aber auch Menschen, die er noch nie zuvor im Palast gesehen hatte. Niemand kümmerte sich um ihn. Er lief, so schnell ihn seine kurzen Beine trugen und nahm die Abkürzung quer über den Zentralhof, um gleich in den Ostflügel zu kommen. Er schwitzte und keuchte, als er endlich vor Pasiphaës Gemächern angekommen war. Aber sie waren leer, bis auf ihre Zofe, die Kleider in eine Truhe legte.
»Wo ist die Königin?« japste er. »Ich muß sofort Pasiphaë sprechen. Es ist dringend!«
»Nichts könnte dringender sein, als das Ungeheuerliche, was heute nacht passiert ist«, sagte sie. »Hast du es noch nicht gehört? Die Schiffe stehen in Flammen, und die Prinzessinnen sind verschwunden.«
»Die Prinzessinnen?«
»Weder eine Spur von Ariadne noch von Phaidra.« Sie senkte ihre Stimme. »Es heißt, sie hätten sie mitgenommen.«
»Wer?« fragte Iassos atemlos, obwohl er die furchtbare Antwort schon ahnte.
»Die Athener. Die Mysten aus Athenai sind alle fort.«
»Pasiphaë!« stammelte er. »Wo finde ich sie?«
»Im Thronsaal. Dort haben sich alle versammelt.«
Die hellen Alabasterbänke waren dicht besetzt. Die Brüder, Deukalion, Katreus, Glaukos, saßen schweigend nebeneinander; Mirtho, Xenodike, Ikaros, Akakallis und Ikstos ihnen gegenüber. Neben und vor ihnen drängten sich die wichtigsten Personen des Hofstaates, Weise Frauen, allen voran Jesa, deren Wangen vor Aufregung brannten.
Als er grußlos hereinstürzte, hob Pasiphaë auf dem Greifinnenthron ihr Haupt. »Du bist es, Iassos«, sagte sie matt. »Weißt du es schon?«
Er nickte und nahm seinen ganzen Mut zusammen. »Das ist leider noch nicht alles«, begann er und warf einen zaghaften Blick auf Minos, der wie ein Raubvogel im Hintergrund wartete. »Ich komme auch mit schlechten Nachrichten.«
»Asterios!« brach es aus ihr heraus. »Haben sie auch ihn entführt?«
Er schüttelte den Kopf.
»Ist er – tot?« Ihre Hände klammerten sich an den Thronsessel, als sei er der einzige Halt, der ihr geblieben war.
»Er lebt«, stieß Iassos hervor. »Aber die Göttin allein weiß, wie lange noch. Er ist schwer verwundet.«
»Wo ist er?« fragte Minos.
»In meinem Haus. Und in bester Obhut. Hatasu hat ihn verbunden und kümmert sich um ihn. Es wird alles für ihn getan, was möglich ist.«
»Hatasu!« Pasiphaë war aufgesprungen. »Was geht hier eigentlich vor – in meinem Palast? Auf meiner Insel?« Mit Augen, giftig grün vor Zorn, funkelte sie Iassos an. »Gibt es eigentlich irgend etwas, über das auch ich informiert bin?« Sie schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen. Aber sie weinte nicht. Als sie wieder aufsah, waren ihre Züge regungslos. »Berichte!«
Iassos stieß hervor, was er wußte. Weder Minos noch Pasiphaë gaben sich damit zufrieden. Immer wieder unterbrachen sie ihn und stellten Fragen, auf die er keine Antwort wußte. Er fühlte sich so unbehaglich, daß er am liebsten in einer der steinernen Ritzen verschwunden wäre. Aber kein Boden tat sich auf, um ihn barmherzig verschwinden zu lassen. Aufgeregt und schweißnaß mußte er Rede und Antwort stehen. »Ich weiß, wir haben nicht richtig gehandelt«, endete er zerknirscht. »Aber sollte ich Hatasu von meiner Schwelle verjagen, als sie mit dem Schwerverletzten ankam? Asterios blutete aus unzähligen Wunden. Er hätte es nicht überlebt, da bin ich ganz sicher. Ich wollte vor allem zunächst sein Leben retten.«
»Aber wir hätten es erfahren müssen!« rief Deukalion. »Auf der Stelle! Wie konntest du nur so lange warten! Damit hast du ihre Flucht begünstigt, weißt du das? Und jetzt sagst du uns, daß er in Lebensgefahr schwebt. Wenn Asterios stirbt, ist sein Tod ganz umsonst!«
»Den Tod kann man nicht verstehen«, murmelte Mirtho von der Bank. Sie sah erschöpft und welk aus. »Man muß alt werden, um zu begreifen, daß wir uns ihm nur fügen können.«
»Behalte deine rabenschwarzen Kommentare für dich«, sagte Minos in die betretene Stille, die ihren Worten gefolgt war. »Wir müssen handeln, nicht weinen.«
»Laß sie ihn Ruhe!« fuhr Pasiphaë ihn an. »Hol mir lieber meine Kinder zurück! Wieso bist du noch hier? Ich will meine Kinder zurück! Eines haben sie mir schon genommen. Und jetzt meine
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