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Palast der blauen Delphine

Titel: Palast der blauen Delphine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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Zenit zusteuerte, wärmte ihnen den Rücken.
    Sie hatten alle Hände voll zu tun, um ihren Flugapparat zu bedienen. Ikaros kümmerte sich um das Holzkohlenfeuer, das auf der vertieften Blechpfanne glühte, und den Ballon mit Hitze erfüllte. Daidalos schlug mit gleichmäßigen, kraftvollen Bewegungen die Flügel, die übergroßen Rudern glichen.
    Sie hatten das Hafenbecken überflogen, wo die verkohlten Schiffsmasten wie schwarze vorwurfsvolle Mahnzeichen in das Blau ragten. Von oben waren die Menschenansammlungen, die an der mittlerweile erloschenen Brandstelle arbeiteten, kaum größer als Käfer gewesen. Es war schwierig, sich zu verständigen, nachdem sie die gewünschte Flughöhe erreicht hatten. Der Wind pfiff; man mußte die Stimme anstrengen. Beide verspürten wenig Neigung dazu. Konzentriert verrichteten sie ihre Arbeit.
    Daidalos warf immer wieder besorgte Blicke auf den Sohn. Erst, als das Inselchen Dia in Sicht kam, begann er sich allmählich zu entspannen. Dann sackte der Ballon ein Stück nach unten. »Das Feuer geht aus«, sagte er, nachdem er sich nach dem ersten Erschrecken wieder gefangen hatte. Solch kleinere Turbulenzen hatte er von Anfang an in seine Berechnungen miteinbezogen. »Du mußt rasch nachlegen. Schau mal in den Sack hinter dir.«
    »Da ist kein Sack«, antwortete Ikaros ruhig. Seine Stimme klang fröhlich; seine Augen glänzten.
    »Natürlich! Ein großer grauer Sack, voll bis obenhin.«
    Sie verloren weiter an Höhe, nicht besorgniserregend, aber doch spürbar. Die Boote unter ihnen wurden langsam größer.
    Ikaros schüttelte den Kopf. »Kein Sack, ich weiß es genau«, erwiderte er heiter.
    Er hatte leise gelacht. Seine Züge waren entspannt, fast mädchenhaft, und Daidalos mußte unwillkürlich an Naukrate denken, die ihm diesen Sohn lächelnd nach der Geburt in den Arm gelegt hatte. »Er wird dir nichts als Freude bringen«. Ihre helle Stimme klang schrill in seinem Ohr.
    »Ich habe ihn absichtlich zurückgelassen«, fuhr Ikaros fort. »Unmittelbar vor unserem Abflug, als du mit anderen Dingen beschäftigt warst, habe ich ihn rausgeworfen.« Sein Ton ließ keinen Zweifel, daß er die Wahrheit sagte.
    »Du bist wahnsinnig!« Beinahe wäre Daidalos der Ruderapparat aus der Hand geglitten. Der Korb trudelte, neigte sich bedenklich nach links. »Willst du uns umbringen?«
    »Ist der Tod nicht der einzige Ausweg aus unserer Situation?« erwiderte Ikaros. Sein dunkler Kopf war zur Seite geneigt, als lausche er einer inneren Stimme. »Für dich, den Verräter? Und mich, den Versager? Hab keine Angst, Vater! Ich habe lange und ausführlich über ihn nachgedacht. Er ist nichts anderes als ein Wechsel zwischen den Welten. Wir treten in einen neuen Zyklus ein, das ist alles. Nur eine lange, dunkle Reise. Mit einem neuen Anfang. Nichts wünsche ich mir sehnlicher, als einen neuen Anfang.«
    »Ich habe aber nicht die geringste Lust zu sterben!« schrie Daidalos aufgebracht. »Wozu meinst du, habe ich mir dies alles ausgedacht – in Monaten und Jahren? Du bist ein Narr, Ikaros! Was ist dir nur eingefallen?«
    »Und ich habe mich immer vor dem Leben gefürchtet, Vater«, lächelte Ikaros. Das Wasser kam näher und näher. Die Wellen waren beängstigend hoch. »Ich habe nie gelernt, zu schwimmen wie du.« Jetzt klang er heiser.
    Bis zum Aufprall konnte es nicht mehr lange dauern. Sie waren schon nah über dem Wasser, kämpften um Höhe.
    »Spring, Ikaros!« schrie der Vater. »Raus aus dem Korb! Mach schon!« Er riß ein Stück der hölzernen Sitzbank aus der Weidenumrandung. Seine Hände bluteten. Er achtete nicht darauf. »Nimm das und halte dich daran fest! Versuche über Wasser zu bleiben – ich hole dich.« Er weinte beinahe. »Spring, Sohn! Spring! Tu’s für mich, ich bitte dich!«
    »Ich kann nicht«, flüsterte Ikaros und klammerte sich an den Korb. »Verzeih, Vater! Verzeih!«
    Daidalos sah noch den bittenden Ausdruck seines Gesichts, als er selbst im allerletzten Augenblick sprang. Noch im Eintauchen hörte er den harten Aufprall des Korbes und den Schrei.
    Dann war Stille um ihn.
     
    Er war tief getaucht. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis er wieder oben war. Seine Lungen brannten vom Salzwasser. Sein dicker Mantel hatte sich vollgesogen. Mühsam schälte er sich heraus.
    Keine Spur von Ikaros.
    Der Korb schien auf den Wellen zu schwimmen, obwohl er an der linken Seite ein Leck hatte. Bald schon würde er untergegangen sein. Das Gestänge, der große Stoffballen, die

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