Palast der blauen Delphine
Der Reichtum, den Sie schenkte, war keine Selbstverständ lichkeit. Es galt, Die der Unzähligen Namen versöhnlich und gnä dig zu stimmen.
Die Frau auf dem Thron, die die Gaben empfing, mußte stark würdevoll und ausgeglichen sein: die Große Mutter, deren Scho alles entsprang und zu der alles wieder zurückkehrte. Sie allei entschied über Wachsen oder Verdörren, über Leben und Tod.
»Dafür brauchst du Kraft und Ruhe«, fuhr Mirtho leise fort »Hirten und Bäuerinnen haben Anspruch auf eine strahlende Göt tin, die keine Schatten unter den Augen hat. Komm zu dir, mein Liebes. Besinne dich, wer du bist. Ich helfe dir dabei.«
Sie zog sie aus dem Sessel und führte sie zu der bequemen Bettstatt. Gehorsam streckte Pasiphaë sich aus und schloß die Augen.
»Hör auf zu grübeln«, flüsterte Mirtho und streichelte ihr dunkles Haar. »Das ist für den Augenblick schon genug.«
Ruhig atmend lag sie da, warm zugedeckt, angenehm müde und wach zugleich. Pasiphaë wartete, daß die vertrauten Hände ihren Körper streicheln würden, so, wie sie es seit ihrer Kindheit immer wieder getan hatten. Aber die Berührung blieb aus. Und dennoch spürte sie einen warmen Strom, der langsam über Kopf und Brust zu ihrem Bauch floß. Gleichzeitig stieg ein Reigen von Bildern in ihr auf. Ihr Körper war erfüllt von Wärme, die sie schützte und nährte, sie ganz frei machte. Es gab keine Zeit mehr, keinen Raum, nur noch die Hände, die diese Kraft ausstrahlten.
Ja, sie war die Tochter der Großen Mutter, die Göttin selbst, zu der zurückfloß, was Sie Ihren Kindern geschenkt hatte. Sie thronte auf einem Sitz aus wildem Wein, zu Ihren Füßen Ährenbündel, Löwinnen an Ihrer Seite. Wilde Bienen umflogen Ihr Haupt, Schlangen ruhten in Ihrem Schoß. Ihr Leib war das Land, das neuen Samen in sich aufgenommen hatte, um später Früchte zu tragen. Sie war die Welt, und sie war alles in Ihr. Mutter allen Seins. Göttin der Liebe. Hüterin von Wahrheit und Schönheit. Die, die seit jeher war. Die, die ewig sein würde.
Langsam kehrte Pasiphaë aus dem Licht dieser freundlichen Landschaft in ihr Megaron zurück und spürte, wie Mirtho behutsam die Hände zurückzog. Sie öffnete ihre Augen.
»Danke«, sagte sie mit einem kleinen Lächeln.
Mirtho beugte sich über sie und küßte ihre Stirn. »Ist schon gut. Schlaf jetzt, Pasiphaë.«
Dann verließ sie leise das Gemach der Königin.
Ariadne kam nicht zum vereinbarten Treffpunkt, weder am Abend, noch in der Nacht, auch nicht am nächsten Morgen. Die Sehnsucht nach ihr wuchs mit jeder Stunde. Aber Asterios wußte, daß er nicht länger warten konnte.
Wider Willen fühlte er, wie seine Zuversicht schwand und Mutlosigkeit, ja sogar Argwohn in ihm aufstiegen. Und wenn sie nur über seine Verliebtheit lachte? Wenn sie nur mit ihm gespielt hatte? Nein, er konnte sich nicht so getäuscht haben! Sie liebte ihn, das fühlte er, das wußte er.
Was aber war geschehen? War sie krank geworden? Durfte sie nicht fort, war sie womöglich eingeschlossen? Er versuchte sich angestrengt zu erinnern. Was hatte sie von ihrem Zuhause erzählt? Hatte sie nicht etwas von besorgten Eltern gesagt? Oder einer überstrengen Mutter?
Verwirrt hielt er inne. Was wußte er von ihr? Er kannte ihren Namen, den sie ihm erst nach langem Widerstreben verraten hatte. Und er wußte, daß sie aus Chalara oder der Umgebung der Stadt stammte. Er mußte dort nach ihr suchen.
Zuvor aber warteten Elyros und die Große Zählung auf ihn. Und die Königin, der er den goldenen Delphinring übergeben sollte. Er wog die kunstvolle Goldschmiedearbeit in seiner Hand. Der Schöpfer des Kleinods hatte es verstanden, auf kleinstem Raum die Illusion einer bewegten Meeresszene zu schaffen. Vor winzigen, gekräuselten Wellen tanzten zwei Delphine, Maul an Schwanzflosse, Schwanzflosse an Maul.
Der Gedanke, mit dem Ring vor Pasiphaë zu stehen, schnürte ihm die Kehle zu. Während der ganzen Zeit in der Bucht hatte er ihn so weit wie möglich von sich geschoben. Aber der Augenblick der Begegnung kam unaufhaltsam näher. Am liebsten hätte er die Herde dem alten Gregeri einfach zurückgegeben und einen Kapitän gebeten, ihn mit nach Westen zu nehmen. Nach Hause, zu Merope.
Von fern war Elyros nicht mehr als ein Mosaik abgestufter Ockertöne, das sich an den Hügel schmiegte. Dazwischen das frische Grün der Gärten und kleinen Felder, wie bunte Flicken in einem Teppich. Erst beim Näherkommen erkannte man, daß das Herzstück des
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