Palast der blauen Delphine
hungrig. Auf den flachen Dächern wurden die ersten Laternen entzündet.
Schließlich kam er mit der Herde vor mehr als drei Dutzend einstöckiger, strohgedeckter Lehmgebäude an, die aufgelockert bis hinunter zum Fluß standen. Das grasbewachsene Gelände dazwischen war mit hölzernen Zäunen in unterschiedlich große Pferche unterteilt. In der warmen Abendluft roch er die vertrauten Gerüche von feuchtem Fell, von Heu und Mist. Stallburschen schrien durcheinander und lachten übermütig, Tiere blökten und meckerten. Schafe und Ziegen, wohin er schaute! Mehr als tausend Tiere mußten in den Ställen und Gattern versammelt sein. Seine Ziegen witterten die Artgenossen und strebten dem Eingang zu. Die beiden Flügel des Portals waren geöffnet. Ein Doppelhorn aus Granit krönte den Giebel.
»Halt! Langsam, langsam!« Ein dunkelhaariger Mann versperrte ihnen den Weg. Buschige Brauen und eine Adlernase ließen sein Gesicht finster erscheinen. Er trug ein Gewand aus gebleichtem Leder und derbe Stiefel. Mit einer Öllampe leuchtete er Asterios entgegen.
»Wer bist du, und was willst du hier so spät?« herrschte er ihn an.
Asterios gab ihm die Antwort, die Merope ihm aufgetragen hatte. »Ich bin der Hirte Astro. Und komme aus Adopodolu in der Messara. Ich bringe die Herde des alten Gregeri zur Zählung.«
»Konntest du nicht früher kommen, Hirte?« Mürrisch ließ der Mann die Lampe sinken. »Wie lange soll ich noch warten, bis ihr euch endlich alle eingefunden habt?« Mit ausgestrecktem Arm wies er über das Gelände. »Hörst du die Tiere, die noch versorgt werden müssen? Als königlicher Stallmeister habe ich wahrlich andere Aufgaben, als mich auch noch um Nachzügler wie dich zu kümmern! Deine Dokumente!«
Asterios zog ein gegerbtes Lederstück aus der Tasche und streckte es ihm entgegen. Mit gerunzelter Stirn verglich der Stallmeister die Angaben mit der Zahl der Tiere.
»In Ordnung. Du kannst deine Ziegen den beiden Stallburschen dort drüben übergeben. Dein Hund bleibt bei der Herde. Morgen früh, vor Sonnenaufgang, beginnt die Zählung. Halt, nicht so eilig«, protestierte er, als Asterios mit seinen Tieren durch das Tor wollte. »Da ist dein Pfand für die Herde. Du mußt es morgen zurückbringen. Die Göttin sei dir gnädig, wenn du es verlierst!«
Er drückte ihm ein Tonstück in die Hand, nicht größer als zwei Daumen. Auf den ersten Blick glaubte Asterios an eine Täuschung. Ungläubig starrte er auf das Oval.
Zwei Delphine, einander zugeneigt, Maul an Schwanzflosse, Schwanzflosse an Maul. Im flackernden Schein der Lampe schienen sie auf den leicht gekräuselten Wellen zu tanzen. Sein Mund wurde trocken. Das Tonstück war wesentlich grober gearbeitet als der goldene Ring, den er in seiner Tasche trug, aber ohne Zweifel war es das gleiche Motiv.
All die Gedanken, die er den ganzen Tag über vermieden hatte, kehrten mit einem Schlag wieder zurück. Der Ring mit den Delphinen, den er schon morgen der Königin überreichen sollte! Aber wann und wie?
Vor Aufregung war seine Hand ganz feucht geworden. »Was ist das?« brachte er schließlich hervor.
»Das Siegel der Königin, was sonst?« erwiderte der Stallmeister unwirsch. »Geh jetzt hinein und laß dir deinen Platz zuweisen. Und komm morgen rechtzeitig!«
Die Nacht war bereits angebrochen, als er die Stallungen verließ. Wolken trieben schnell am Himmel und verdeckten die bleiche Mondsichel. Als er dem großen Platz näherkam, lichtete sich die Finsternis. Hier waren immer noch erstaunlich viele Menschen unterwegs. Manche von ihnen hatten Laternen dabei, um in den engen Gassen nicht in die offenen Schächte der Kanalisation zu stolpern.
Seine Gedanken waren bei Ariadne. In einem dieser Häuser lebte sie. Aber wie sollte er sie finden?
Dann stand er endlich vor dem zweistöckigen Haus, das durch einen turmartigen Mittelbau hervorstach. Licht schimmerte durch das geölte Pergament der hölzernen Fensterkreuze. Er klopfte an die Haustüre.
Iassos öffnete ihm selbst. »Mein Haus sei dein Haus!« sagte er, als er ihn in die Diele führte. »Ein Bad wird gerade für dich bereitet. Und anschließend werden wir zusammen essen. Aber zuerst muß ich meine geschätzte Kundin fertig bedienen!«
»Mach dir keine Mühe, ich habe alles beisammen, was ich für heute brauche.«
Die melodische Stimme gehörte einer kleinen, zarten Frau, die auf den ersten Blick wie ein Mädchen wirkte. Sie war, einen Korb voller Pflanzen über dem Arm, langsam den
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