Palast der blauen Delphine
zeigen und ihr seine seltsame Geschichte erzählen. Und ihr auch seinen Namen anvertrauen, jetzt, da sie ihm ganz gehörte.
Erleichtert, den bohrenden Blicken der Alten entronnen zu sein, riß er sich den Schurz vom Leib, rannte ein Stück am Strand entlang und sprang mit einem Satz in die Wellen.
Langsam trat Mirtho hinter dem Stamm hervor, der sie vor seinen Blicken verborgen hatte. Selbst aus der Entfernung hatte sie deutlich das Mal an seiner Hüfte erkannt: die Spitzen des heiligen Doppelhorns, das Merope und sie bei seiner Geburt entdeckt hatten. Es gab keinen Zweifel. Er war Pasiphaës Sohn. Er war Asterios, auf den ein schwieriges Erbe wartete. Die Dinge duldeten kei nen Aufschub. Sie mußte handeln.
Die Sonne stand hoch, als Mirtho den Garten der königliche Villa erreichte. Am Ende des Weges, der vom Meer hinauf zu dem kleinen Palast führte, blieb sie stehen und tupfte sich den Schwei von Stirn und Nacken. Auch hier im Garten waren die Vorberei tungen für das Frühlingsfest nahezu abgeschlossen. Das Veredel der Obstbäume war bereits beendet. Jetzt waren einige der Gärt nerinnen dabei, die Büsche mit Bronzescheren zu kappen; ander hatten Kannen mit Zisternenwasser gefüllt, um die Blumenbeet zu begießen.
Der kleine Palast war die Lieblingsresidenz der Königin. An ei nem sanft abfallenden Hügel, wo der Nordwestwind auch a heißen Tagen Kühlung brachte, lagen die Privatgemächer Pasi phaës. Vor ihrem Megaron öffnete sich nach Nordwesten ein große Terrasse, die ihr den Blick über die Kornfelder der Messara ebene bis zum Meer erlaubte. Eine weitere lag in östlicher Rich tung. Von hier aus konnte sie beobachten, wie sich die Morgen schleier vom Doppelhorn des heiligen Berges hoben.
Um zwei große, mit Quadern aus grünlichem Schiefer belegt Höfe und ein zentral gelegenes Atrium gruppierten sich die offi ziellen Empfangsräume. An eine Pfeilerhalle und einen Festsaal dessen zartblaue Fresken die Tierwelt des Meeres zeigten, schlos sen sich nach Süden der Thronsaal und die Opferungsräume an Eine Eichentür verschloß den Zugang zum Heiligtum selbst, z dem nur die Priesterinnen Zugang hatten. Hier ruhte in einem Schrein aus Akazienholz die Doppelaxt, die der Göttin geweih war.
In südöstlicher Richtung angegliedert waren die Vorratsmaga zine und das zweistöckige Archiv der Schreiberinnen. Dort dräng ten sich auf schrägen Holzregalen Abertausende von Tontäfel chen, auf denen der Reichtum der Insel festgehalten war. Dor wurden in Steintruhen auch die empfindlichen Rollen aus ägyptischem Pergament aufbewahrt, auf denen die alljährlichen Steuerabgaben der Bauern und Hirten verzeichnet waren.
Vor dem Zederntor des Palastes stand die Sänfte der Königin. Mirtho nahm nicht den offiziellen Weg über den Südhof und die große Freitreppe, sondern stieg über schmale Stufen direkt in das obere Stockwerk.
Im Megaron bauschte der Mittagswind vor den geöffneten Türen der Veranda blaue Leinentücher, die die Sonne aussperrten. Als Mirtho eintrat, erhob sich Pasiphaë von ihrer Bettstatt. Sie trug noch ihr Reisegewand, ein safrangelbes Kleid mit engem Mieder und plissiertem Rock. Ein Goldreif schmückte ihr Handgelenk; an ihrem Ohr baumelte die Mondsichel.
»Gut, daß du endlich da bist«, empfing sie leicht gereizt die Amme. »Wo hast du nur den ganzen Morgen gesteckt?«
»Ich habe mich sehr beeilt«, gab Mirtho ausweichend zur Antwort und fuhr hastig fort: »Hör mir zu, mein Täubchen, und stell mir jetzt keine langen Fragen, sondern tu, worum ich dich bitte. Du mußt Ariadne sofort wegschicken – nach Phaistos, besser noch nach Knossos!«
»Ariadne? Du weißt, daß bald die Große Zählung beginnt. Dann wird sie zusammen mit ihren Schwestern am Opfer teilnehmen.«
»Ich weiß, ich weiß«, erwiderte Mirtho ungeduldig. »Sie muß trotzdem gehen.«
»Wie stellst du dir das vor?« fuhr Pasiphaë sie an. »Ist es nicht schon genug, daß ich Minos untersagt habe, öffentlich den guten Hirten zu spielen. Der Platz meiner Töchter ist beim Opfer an meiner Seite! Und dazu gehört auch Ariadne.«
Und er ist dein Sohn, dachte Mirtho. Seufzend sann sie nach neuen Argumenten.
Erst als sie vom nächtlichen Verschwinden der Prinzessin berichtete und Pasiphaë den schmalen Ring zeigte, den Ariadne der Wache zugesteckt hatte, um die Villa ungehindert verlassen un betreten zu können, wurde die Königin aufmerksam.
»Seit Tagen, sagst du?« fragte sie ungläubig.
»Ja«, bestätigte Mirtho.
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