Palast der blauen Delphine
hatte bereits Vorsorge getroffen, daß ihn dann ein Wagen an diese Stelle bringen würde. Von hier aus, weit oben auf dem karstigen Felsen, hatte er den besten Überblick. Er sah über die Bucht, den Hafen mit seinem Kai und den niedrigen Bootsschuppen, das weite blaugraue Meer. Irgendwo im Dunst, für ihn unerreichbar weit im Süden, mußte diese fruchtbare, diese furchtbare Insel liegen, auf der man seinen Sohn seit vielen Jahren gefangenhielt.
Seit jenem Sommermorgen war seine Angst täglich gewachsen. Jetzt war der Herbst gekommen, und noch immer gab es trotz aller Ängste Augenblicke, in denen eine winzige Hoffnung in ihm keimte. War Theseus nicht am Tag der Abfahrt Apollo erschienen, um ihm und den anderen Jungen und Mädchen aus Athenai die sichere Heimkehr zu versprechen?
Aigeus wünschte, er könnte an die Prophezeiung glauben. Aber er fühlte sich von Woche zu Woche mutloser. Er sah zu, wie die Sonne aus einem gleißenden Meer stieg, ungewöhnlich ruhig für diesen stürmischen Herbst. Bestes Segelwetter, um nach Hause zu kommen, dachte er sehnsüchtig, obwohl er wußte, daß die Ewigkeit von neun Jahren noch lange nicht zu Ende war. Und dann? Was wäre dann? Fände Theseus überhaupt den Weg zurück nach Hause? Und in welchem Zustand? Was hatten die Kreter aus ihm gemacht?
Manchmal konnte er sich kaum noch an ihn erinnern, den ungestümen Bastard mit dem blonden Haar und den hellen Augen seiner Mutter, den er offiziell zu seinem Nachfolger gemacht hatte. Zu kurz hatte Theseus bei ihm gelebt, einige spannungsreiche Monate nur, in denen er allerdings den ganzen Hof auf den Kopf gestellt und die Mehrheit der attischen Adeligen gegen sich aufgebracht hatte. Aigeus hatte ihre Mienen nicht vergessen, als, zusammen mit ihren Kindern, auch sein Sohn das Schiff nach der fernen Feindesinsel hatte besteigen müssen. Sie hatten es ihm gegönnt, jeder einzelne von ihnen. Sie waren erleichtert, daß der Thronfolger aus ihrem Blickfeld verschwunden war. So, hatten sie damals gedacht, würde es leichter für sie sein, die Regierung an sich zu reißen.
Trotz seiner sonstigen Gleichgültigkeit verspürte er Genugtuung. Noch lebte er, noch war er der König, und nur als Toter würde er den harten Thron Athenais verlassen. Wie sehr hatte er gehofft, ihn noch zu Lebzeiten seinem Sohn übergeben zu können! Er kannte ihn kaum, Theseus, der auf so seltsame Weise erst als Halbwüchsiger zu ihm gestoßen war – und dennoch verband ihn eine unvernünftige Liebe mit diesem Kind, das ihm die Götter erst so spät geschenkt und Minos ihm so bald grausam entrissen hatte. Der Junge hatte etwas, das er selbst nicht besaß, bäurisch anmutende Kraft, die in Grausamkeit umschlagen konnte, ihr Ziel aber unbeirrt weiterverfolgte. Was er sich einmal in den Kopf gesetzt hatte, würde er unter allen Umständen auch zu Ende bringen. Ob er einmal ein guter Herrscher über Athenai sein würde? Ob er überhaupt seine neue alte Heimat wiedersehen würde? Und seinen greisen Vater?
Aigeus fröstelte im Morgenwind. Hinter sich hörte er ein leises Wiehern. Unwillkürlich verzog er den Mund. Das mußte das Pferd des alten Pallas sein, der wie ein bockiger Schatten seit Wochen an ihm haftete. Irgendwann, gegen Ende des Sommers, als die ersten Winde aufkamen, war er zu ihm gestoßen. Seitdem saßen sie nebeneinander auf dem Felsen, meist ohne Worte, und starrten auf die offene See hinaus.
Manchmal entrang sich der Brust des früheren Hünen ein schwerer Seufzer. Hernippos und Prokritos, seine beiden Söhne, hatte der Kreter ihm genommen, nur Eli, die Tochter, war ihm geblieben. Pallas war der wortgewaltige Anführer der Adelsgruppe gewesen, die gegen Theseus’ künftige Regentschaft am lautesten opponiert hatte. Dafür war er bitter bestraft worden. Zwei Väter saßen nebeneinander, die ihre Söhne verloren hatten. Er hatte ihn auch für heute erwartet. Zu zweit war es leichter, zu warten und zu hoffen.
Während er sich auflöste, durchscheinend und brüchig wurde wie ein lange getragenes Hemd, schien jener zu versteinern. Ein Fels, der alle Regungen unter einer harten Oberfläche verschlossen hielt.
Heute aber begann er plötzlich zu sprechen. »Wir sind zwei alte Narren, Aigeus«, sagte er. »Wie lange haben wir uns gegenseitig das Leben schwer gemacht. Und jetzt hocken wir hier wie zwei abgehalfterte Recken, denen nichts geblieben ist, als das Meer anzustarren.«
»Du kannst ja gehen, wenn es dir nicht gefällt«, erwiderte Aigeus
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