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Palast der blauen Delphine

Titel: Palast der blauen Delphine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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Vielleicht war Theseus drauf und dran, den Verstand zu verlieren. Die Tatsache, daß er mit Seilen und Fackeln ausgerüstet aufbrach, um die Athener auf einer einsamen Insel den Tanz vollführen zu lassen, gegen den er sich auf Kreta stets mit Händen und Füßen gewehrt hatte, könnte ein Anzeichen dafür sein.
    Sie war zu erschöpft, um zu weinen. Sie mußte die Fahrt irgendwie überstehen. Ab morgen würde sie essen, um wieder zu Kräften zu kommen. Wahrscheinlich war es das beste, sich Theseus scheinbar zu fügen, um seinen unberechenbaren Zorn nicht weiter herauszufordern.
    Nach der Ankunft würde sie weitersehen. Auch in Athenai gab es vermutlich Menschen, die ihr helfen konnten. Und bis dahin lagen sicherlich schon die Schiffe ihres Vaters im Hafen von Phaleron. Weder Minos noch Pasiphaë würden zulassen, daß sie in der Gewalt dieses Barbaren blieb. Keiner würde die Priesterin der Großen Mutter den Feinden in Athenai überlassen.
    Mit diesen tröstlichen Gedanken schlief sie schließlich ein.
    Als Theseus viel später mit einer Öllampe zu ihr hinunterschlich, waren ihre Wangen noch feucht. Aber sie lächelte im Schlaf.

Tod der Sonne
    Als Ariadne erwachte, war das Schiff schon lange fort. Das erste, was sie sah, als sie die Augen aufschlug, war das dunkelgrüne Baumdach über ihr. Sie blieb zunächst, wo sie war, am Fuß der Platane, und versuchte, sich zu orientieren. Ihr Rücken war verspannt, als hätte sie lange in ein- und derselben Position geschlafen. Sie dehnte und streckte sich. Ihre Hände berührten ihren leicht gewölbten Bauch und streichelten ihn sanft. Noch konnte sie das Kind, das in ihr wuchs, nicht ertasten. Aber es konnte nicht mehr lange dauern.
    Sie hatte Durst. Sie angelte sich den Wasserbeutel, der unweit neben ihr lag. Da waren noch zwei flache Bündel, auf denen sich Staub angesammelt hatte, eines, das nach zusammengelegten Kleidern, das andere, das nach eingeschlagenem Fladenbrot und Trockenfleisch aussah. Gleich daneben entdeckte sie ein Säckchen mit Oliven, über das sich Ameisen und Käfer hergemacht hatten.
    Das Wasser im Lederschlauch war warm und schmeckte abgestanden. Sie spuckte den ersten Schluck aus, war aber zu durstig, um wählerisch sein zu können. Sie trank gierig. Sofort fühlte sie sich besser. Es war schön, auf der Decke zu liegen und dem Spiel der Wellen zuzusehen, die sich am Ufer brachen. Jetzt waren die Bilder, die in ihr aufstiegen, nicht mehr wild und grausam. Sie mußte während ihres Schlafs schreckliche Angstträume gehabt haben.
    Vor ihr erstreckte sich eine kleine Sandbucht, die am Rand von Halmen und dunkelgrünen, stachligen Gräsern bewachsen war. Sie blinzelte hinauf zum Himmel. Es würde bald Mittag sein. Obwohl sie das Gefühl hatte, ungewöhnlich lange geschlafen zu haben, war sie noch immer nicht ganz wach. Ihr Kopf dröhnte, als hätte sie zu reichlich dem starken, gewürzten Wein zugesprochen, der nur an besonderen Festtagen im Palast ausgeschenkt wurde. Sie stutzte. Irgend etwas stimmte nicht – das konnte nicht sein! Seitdem sie schwanger war, hatte sie keinen Alkohol mehr getrunken.
    Und plötzlich war alles wieder da. Der Plan. Das Labyrinth. Der Brand. Die Flucht. Die weite, offene See. Der Weg nach Athenai. Theseus, ihr Geliebter! Wo steckte er? Wo waren die anderen? Wo war das Schiff?
    Sie fuhr in die Höhe. Ihr Herz klopfte hart gegen die Rippen, ihre Hände waren schweißnaß.
    Kein Mensch weit und breit. Keine Spur von der schwerfälligen Triere mit dem dunklen Segel. Sie war allein, über ihr nur der alte Baum und leises Vogelzwitschern. Vor ihr das grünliche Meer, das gleichmäßig das Ufer leckte. Es mußte ein böser Traum sein. Sie war noch nicht wach. Noch während sie erschöpft die Lider schloß und sich mit einem Seufzer auf die Decke sinken ließ, wußte sie, daß sie nicht träumte. Sie war hellwach. Niemals zuvor in ihrem Leben war sie bei klarerem Bewußtsein gewesen. Es gab nicht den geringsten Zweifel: Er hatte sie zurückgelassen, ausgesetzt wie eine streunende Hündin, auf Naxos, einer Insel, die sie niemals zuvor betreten hatte.
    Wie lange mochte sie als Strandgut hier gelegen haben? Und was hatten sie ihr eingeflößt, um sich in aller Ruhe davonzumachen? Warum hatte Theseus sie verlassen, nach allem, was sie für ihn getan hatte? Die Fragen wirbelten in ihrem Kopf. Ihr wurde übel. Vorsichtig drehte sie sich auf die Seite und setzte sich auf. Als sie sich erhob, merkte sie, wie wacklig sie auf den Beinen

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