Palast der blauen Delphine
Schädel.
Sogar sein Neffe fiel ihm ein. Wenn alles rundherum dunkel war und über ihnen der Mond leuchtete, sah er dessen frisches Gesicht vor sich. Die Nähe der kleinen Häfen, in denen sie in der Abenddämmerung anlegten, beschwor die Erinnerung an den Felsen wieder, auf dem einst ihre blutige Auseinandersetzung stattgefunden hatte. Warum hatte er mit ihm konkurrieren müssen? War es denn wirklich so schwer gewesen, der zweite nach ihm, dem von allen anerkannten und bewunderten Baumeister, zu sein?
Dazu war noch seine Leidenschaft für Naukrate gekommen. Er hatte sie nicht mehr ertragen können, diese heimlichen, vielsagenden Blicke, die die beiden hinter seinem Rücken getauscht hatten. Ja, er hatte richtig gehandelt: Kalos hatte den Tod mehrfach verdient, da war Daidalos sich heute sicherer denn je. Auch wenn diese Tat der Anfang seiner langen Irrfahrt gewesen war.
Eine neue Station lag vor ihm, Sizilien, das wilde, unberührte Land, in dem ein König regierte, dessen Namen er bislang nicht einmal kannte. Noch scherte er sich nicht darum. Er war aller Könige so müde! Und dennoch würde ihm, wie die Dinge nun einmal lagen, nichts anderes übrigbleiben, als sich wieder in die Dienste dieses neuen Herrschers zu begeben, wollte er nicht als einfacher Schmied an irgendeiner Esse enden. Seine Talente entfalteten sich nur im richtigen Rahmen. Es war nicht gerade wenig, was er vorzuweisen hatte. Er konnte jedes beliebige Gebäude errichten, brauchbares Eisen produzieren, sogar einen Flugapparat bauen, der eine ganze Weile in den Lüften trug. Jeder Herrscher, der sich diese Fähigkeiten nicht auf der Stelle sicherte, mußte verrückt oder beschränkt sein.
Seine Zukunft sah trotz aller Schicksalsschläge nicht schlecht aus – wäre da nur nicht diese schreckliche Müdigkeit gewesen! An manchen Tagen war sie so überwältigend, daß es ihn Mühe kostete, überhaupt die Augen aufzuschlagen. Er hätte schlafen können, für immer schlafen, eingerollt in den billigen Mantel, den ihm einer der Männer überlassen hatte. Hielt er die Lider geschlossen, war er seinen inneren Stimmen näher. Dann kamen wieder Naukrate und Ikaros zu ihm, seine kleine, geliebte Familie, die er so sehr vermißte. Manchmal mischte sich überraschenderweise auch der verheißungsvolle Alt der Nubierin darunter, aber er verbat sich den Genuß dieser Erinnerung. Er verdiente Patane und ihre Wohltaten nicht mehr. Er mußte büßen und leiden, gründlicher und härter, als jemals zuvor in seinem Leben.
Er konnte gleich damit beginnen, jetzt, da die Tage kürzer und die Wellen immer stürmischer wurden. Trotz seiner soliden Bauweise schlingerte das Schiff manchmal wie eine Nußschale, und Daidalos erbrach oft das wenige, das er gegessen hatte. Er versuchte kaum, sich zu reinigen, so rasch folgten die Übelkeitsanfälle aufeinander.
Sie kamen zügig voran. Die griechischen Inseln lagen hinter ihnen, sie hatten den Peloponnes umsegelt und nahmen direkten Kurs auf Sizilien. Seltsamerweise dachte er kaum an Athenai, das ihm nach Theseus’ Verrat noch ferner gerückt war. Er war mit seinen Gedanken viel öfter bei Minos. Ihn vor allem machte er verantwortlich für das Ende seines Sohnes. Minos hatte Ikaros von Anfang an nur benutzt. Er allein, das wußte er inzwischen, war schuld an der wachsenden Entfremdung zwischen Vater und Sohn, er und sein mißratener Sprößling Deukalion, der mit Ikaros ebenfalls nur seine Lust befriedigt hatte. Den beiden vor allem war es anzulasten, daß sein Sohn schließlich wie ein Kreter gedacht, gefühlt und gehandelt hatte.
Wenigstens war er wie ein Mann gestorben. Er hatte seinen eigenen Tod geplant und konsequent durchgeführt. Im Nachhinein zwang ihm diese Zielstrebigkeit fast so etwas wie Respekt ab. Er würde den Tod des Sohnes rächen, mochten auch Monate und viele Jahre vergehen, bis es so weit sein würde. Noch wußte er nicht, wie; dazu war, was vor ihm lag, zu vage und unberechenbar. Aber er hatte Zeit. Unermeßlich viel Zeit. Und wenn es sein ganzes künftiges Leben dauern sollte – er würde bittere Rache nehmen an Kreta und jenen, die es regierten oder einmal regieren würden.
Die Faust geballt, den schmalen Kopf hocherhoben, stand er am Bug, als das karstige Ufer in Sichtweite kam. Die nächste Insel, dachte er. Wieder ein Neubeginn. Mal sehen, ob sie mir und meinen Plänen mehr Glück bringen wird.
»Wir sind da«, sagte der Kapitän. »Deine Reise ist zu Ende.«
Nein, dachte der schmächtige
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