Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Palast der blauen Delphine

Titel: Palast der blauen Delphine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
Vom Netzwerk:
war. Sie mußte lange nichts mehr gegessen haben. Sie war so hungrig, daß sie in jeden Stein hätte beißen können.
    Ariadne stürzte sich auf den Brotbeutel. Das Fladenbrot war hart, von Ameisenspuren bereits gezeichnet. Das Fleisch roch süßlich. Sie schlang beides hinunter. Sie wühlte den Kleidersack durch. Ein zerknittertes gelbes Gewand, ein Gürtel, den sie kaum noch schließen konnte, ein paar Sandalen, zwei schmale Goldreifen, eine goldene Halskette, ein dünner Umhang, wertlos für klamme Herbstnächte. Hatte er ihr nichts als das zurückgelassen?
    Sie stand auf und begann den Strand systematisch abzusuchen. Sie fand zwei leere Vogeleier, ein Stück Schlangenhaut, das sich trocken und warm in ihrer Hand anfühlte, ein paar schwarze Beeren an einem dornigen Strauch, die sie abriß, sich in den Mund stopfte und sofort wieder ausspuckte. Keinen Brief, nicht einmal eine winzige Nachricht. Sie stieß erst auf das dritte Bündel, als sie ihre Decke zusammenrollen wollte, um sich auf den Weg zu machen. Es mußte direkt unter ihrem Kopf gelegen haben. Hier, am Strand, mochte sie nicht noch eine Nacht bleiben. Sie wollte so lange gehen, bis sie auf eine Ansiedlung traf.
    Mit zitternden Fingern knotete sie das Tuch auf und erschrak. In ihrer Hand lag das goldene Doppelhorn mit der Sonnenscheibe, das Amulett aus dunklem Gold, das Asterios ihr nach einer ihrer ersten Liebesnächte zärtlich um den Hals gelegt hatte. Sie hatte es beinahe vergessen, aber es war sein Geschenk.
    Sie brach in Tränen aus. Jetzt konnte sie weinen um Asterios, den fremden, geheimnisvollen, oftmals unverständlichen Bruder, der sie geliebt hatte wie kein anderer Mann. Den Geliebten, den sie als ersten umarmt hatte. Nun mußte sie sich nicht mehr mit aller Kraft wehren gegen die furchteinflößenden, die unheimlichen Bilder und Gedanken, die sie seit ihrer Flucht aus Kreta Tag und Nacht bedrängten. Eines nach dem anderen ließ sie in sich aufsteigen und versuchte, sich vorzustellen, was sich im Labyrinth zwischen ihm und Theseus abgespielt haben könnte. Schluchzen schüttelte ihren ganzen Körper.
    Er mußte tot sein, tot, wie die Liebe zu ihm, die sie mutwillig erstickt hatte. Niemals sonst wäre Theseus in den Besitz der ledernen Maske gekommen. Und in den Besitz des Amuletts. Niemals hätte Asterios ihm freiwillig das Schmuckstück überlassen, das einst den Bund zwischen ihnen besiegelt hatte.
    Er war tot, und sie hatte ihm den Mörder geschickt. Im heiligen Mutterleib hatte er den Bruder, der einst ihr Geliebter war, hingeschlachtet. Sie warf sich bäuchlings auf den harten Boden. Für das, was sie ihm und Kreta angetan hatte, gab es keine Vergebung. Sie hatte alle verraten: Asterios, den Vater, die Mutter, die Geschwister – die Göttin und all ihre Priesterinnen. All das, was zu ehren und zu lieben sie in ihrem Einweihungsweg feierlich gelobt hatte. Um keinen Deut war sie besser als Theseus, der auf dem Meer mit seiner Beute nach Norden segelte.
    Sie erhob langsam ihr staubiges Gesicht von der Erde; sie lächelte schmerzverzerrt. Sie würde ihren Verrat auf ihre eigene Weise sühnen.
     
    Als die Morgennebel sich hoben, stand Aigeus in der Bucht von Phaleron. Seit Wochen schon kam er Morgen für Morgen hierher. Irgendwann im Sommer hatte er damit angefangen, nach einer Nacht, die ihn schweißgebadet hatte erwachen lassen. Damals hatte er im Traum ein Schiff gesehen, keine der wendigen kretischen Triakontoren, mit denen seine Feinde das Meer beherrschten, sondern eine der attischen Trieren. Ein Schiff auf seinem Kurs nach Norden. Mit fleckig schwarzen Segeln. Ein Totenschiff.
    Keinem hatte er seinen Traum anvertraut. Niemand auf der Burg ahnte, was ihn seitdem quälte. Aber alle sahen, wie sein Lebenslicht langsam verlosch. Sein Zustand hatte nichts mit der Erkältung zu tun, die er sich im Winter in den zugigen Mauern geholt hatte. Kein Fieber war es diesmal, eher ein stilles Dahinschwinden, gegen das er keinen Widerstand leistete. Es bereitete ihm im Gegenteil grimmige Freude, den Gürtel immer enger zu ziehen. Er verweigerte das Essen, ließ an der Tafel den Wein unberührt. Das wöchentliche Bad hatte er schon seit langem gestrichen.
    Warum sollte er noch auf sich achten? Wozu noch weiterkämpfen? Manchmal kam Aigeus sich vor wie ein müder, uralter Mann, der sich selbst überlebt hatte.
    Nur den allmorgendlichen Ritt zum Hafen mochte er nicht aufgeben. Auch wenn er bald schon zu schwach sein würde, um selbst zu reiten – er

Weitere Kostenlose Bücher