Palast der blauen Delphine
säuerlich. »Ich habe niemanden gebeten, mir Gesellschaft zu leisten!«
»Ich denke nicht daran!« polterte Pallas und rückte unaufgefordert ein Stück näher. »Du und ich, wir sind zu lange auf dieser Welt, um uns gegenseitig noch etwas vorzumachen.« Beide schwiegen. »Du hoffst, daß sie früher zurückkommen«, fing er nach einer längeren Pause wieder an. »Die Götter allein wissen, wer dir diese Zuversicht geschenkt hat!«
»Ich bin alles andere als zuversichtlich«, antwortete Aigeus müde. »Es ist die Angst, die mich hierhertreibt.«
Er drehte sich, um Pallas anzuschauen. Dessen Wangen waren schlaff, das Kinn kraftlos. Sein linkes Augenlid hing seit dem Zusammenbruch vor zwei Sommern halb über der Pupille. In seinem verknitterten Mund gab es bestenfalls noch eine Handvoll gesunder Zähne. Es tat Aigeus weh, ihn so zu sehen. »Wir haben einen großen Fehler gemacht«, fuhr er fort. »Wir hätten Androgeus nicht ermorden dürfen. Die Geschichte mit den Straßenräubern, die ihn angeblich überfallen und ausgeraubt haben, hat uns ohnehin niemand geglaubt. Der Fluch dieser Tat lastet noch heute auf uns, Pallas! Ohne sie wäre alles vermutlich ganz anders gekommen. Vielleicht lebten wir in Frieden mit den Kretern. Auf alle Fälle aber wären unsere Kinder hier bei uns, jetzt, da wir beide alt und müde geworden sind.«
»Der Kreter brauchte dringend einen Dämpfer«, beharrte Pallas. »Vielleicht war es nicht die beste aller Möglichkeiten – aber hatten wir denn eine andere Wahl? Der Prinz war nur die Vorhut, ein geschickter Spion. Nach ihm wären andere gekommen, Minos selbst, um dich vom Thron zu stoßen.« Sein Atem ging schwer.
»Das, wovon du dein ganzes Leben geträumt hast«, erwiderte Aigeus langsam, ohne ihn aus den Augen zu lassen. »Du magst deine Gründe für dich behalten, nach so vielen Jahren. Ich aber müßte lügen, wollte ich behaupten, daß mich damals politisches Kalkül oder taktische Voraussicht dazu brachten. Ich konnte ihn nicht mehr ertragen, diesen eingebildeten Kreter, mit seinen vielen Töchtern und Söhnen, seiner Königin, deren Schönheit alle rühmten – während mir jede Frau wegstarb, die ich liebte, und meine Lenden Jahr um Jahr unfruchtbar blieben. Wie konnte ich ahnen, daß irgendwo Theseus aufwuchs? Ich mußte damit rechnen, kinderlos abtreten zu müssen. Und er? Den Tod habe ich ihm gewünscht, die Pest, den Untergang, und als wir dann seinen Erstgeborenen bei uns hatten, wußte ich auf einmal, womit ich ihn unheilbar treffen konnte.« Er beugte sein Haupt. Als er wieder aufsah, waren seine Augen feucht. »Damals hatte ich noch keine Ahnung, wie sehr wir uns damit selbst schaden würden. Unser Unrecht schrie zum Himmel und erreichte die Götter. Weißt du noch, wie sie uns straften?«
Der andere nickte stumm.
»Erst die Seuche, dann die Mißernten, und schließlich die Hungersnot, die ganz Attika unter ihr grausames Joch zwang. Und endlich belagerte Minos mit all seinen Bundesgenossen unsere Küste. Das, was wir am meisten gefürchtet hatten, war eingetroffen. Er hatte uns abermals geschlagen.«
»Vielleicht hätten wir uns trotzdem wehren sollen«, wandte Pallas ein, »es lieber auf einen Kampf ankommen lassen. Mutig in der Schlacht zu fallen, anstatt in diesen ehrlosen Handel einzuwilligen.«
»Das hatten wir nicht mehr zu entscheiden«, entgegnete der König. Sein Gesicht war grau, und er sah unendlich müde aus. »Das hatten die Götter längst für uns getan. Kein Mensch würde jemals anzweifeln, was aus Delphi kommt. Uns blieb nur noch, uns dem Orakel zu beugen und unsere Kinder nach Kreta zu schicken – oder unterzugehen.« Er erhob sich mit steifen Gliedern. »Meinst du, ihre Große Mutter besitzt am Ende doch mehr Macht als Zeus?« sagte er leise. »Es hat schon Nächte gegeben, in denen mir diese Gedanken gekommen sind.«
»Was redest du da für dummes Zeug!« Pallas sprang auf. »Man könnte ja beinahe denken, da spräche ein Kreter! Du bist der König von Athenai, der seinen Göttern opfern muß – nicht irgendeiner fremden Götzin.«
»Hat uns nicht alle eine Mutter geboren?« wandte Aigeus nachdenklich ein. »Dich? Mich? Alles, was lebt und atmet? Dieses Keimen und Sprießen, dieses Wachsen und Vergehen, von dem wir alle abhängen und das wir jedes Jahr wieder von neuem erleben – erinnert das nicht an einen unerschöpflichen, einen gewaltigen mütterlichen Schoß, der alles hervorbringt und wieder in sich eingehen läßt?«
»Das ist der
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