Palast der blauen Delphine
in der Höhle, die nur zwei Fackeln im Hintergrund ein wenig erhellten. Durch den Eingang kroch diffuses Licht. Konnte es schon Abend sein? Sein Herz jagte. Was war geschehen? Er hatte ihre klagende, verzweifelte Stimme gehört, so deutlich, als stünde sie unmittelbar neben ihm.
Asterios schloß abermals die Augen und ließ das blaue Licht kommen.
Sie liegt am Fuß eines Baumes, in merkwürdig verdrehter Stellung. Ein Sturz aus einiger Höhe, der ihr den Arm weggespreizt hat und das Knie seitlich geknickt. Dann erst entdeckt er die Schlinge um ihren schlanken, bräunlichen Hals.
Sie ist tot, es gibt keinen Zweifel, sie ist tot! Er spürt den Gürtel in seinem eigenen Genick und zerrt voller Panik an dem plötzlich unerträglich engen Gewand um seinen Hals.
Ariadne ist tot!
Asterios sank auf die Knie und schlug mit der Stirn wieder und wieder gegen den harten Boden. Er kümmerte sich nicht darum, daß die Haut riß und er blutete. Sein Schädel pochte, als würde er im nächsten Augenblick zerspringen.
»Asterios, was ist geschehen? Was ist mit dir? Bist du verletzt?«
Er hielt erst inne, als Hatasu ihn am Arm rüttelte. Aber er schien sie nicht wahrzunehmen. »Ariadne«, sagte er leise. »Sie ist tot. Ich weiß es.«
»Tot?« wiederholte sie. »Woher willst du das wissen?«
Er sprang auf. »Sie hat sich umgebracht«, flüsterte er. »Erhängt. Jetzt ist das Schreckliche, das auf uns zukommt, nicht mehr weit. Ich kann es fühlen, so deutlich, daß mein ganzer Körper schmerzt. Aber noch nicht sehen.«
»Es ist schon etwas passiert«, sagte Hatasu bedrückt. »Erystenes, der junge Athener, er ist … nicht mehr hier.«
»Was sagst du da?« Nur langsam kehrte er wieder in die Gegenwart zurück. »Was soll das heißen?«
»Erystenes ist weg«, entgegnete sie. »Und nicht allein. Ein paar von den jungen Männern aus Knossos fehlen ebenfalls. Und …« sie stockte.
»Und?«
»… zwei deiner Helfer, Ion und Satos. Sie wollen ihn der Großen Mutter opfern. Sie glauben, nur auf diese Weise könne Ihr drohender Zorn noch besänftigt werden. Ein Menschenopfer, Asterios, ein Junge hat sie belauscht.«
»Sie müssen wahnsinnig sein!« brauste er auf. Aber in seinem Inneren stieg eine Erinnerung auf, nein, eine furchtbare Gewißheit. »Niemals würde jemand auf Kreta eine solche Tat begehen – und sie, die ich persönlich ausgebildet habe, schon zweimal nicht!« Plötzlich sah er Ikaros vor sich. Den Ritt nach Archanes. Die Pforte des Tempels, die schwarze Göttin des Todes, die Opferschale, voller Blut …
»Ich fürchte, da irrst du dich«, widersprach sie müde. »Obwohl ich noch immer hoffe, daß du recht behältst. Aber es sieht nicht danach aus. Mit all deinem Beten und Anrufen der Göttin bekommst du gar nicht mehr mit, was um dich herum geschieht. Weißt du, was diese Menschen fühlen, die du in die Berge geführt hast? Wie verzweifelt und mutlos sie sind? Was sie denken? Wovor sie Angst haben?«
Sie schüttelte ihren dunklen Kopf, und selbst im unbestimmten Licht konnte er die weißen Fäden leuchten sehen, die ihr Haar durchzogen. Sie sah aus, als hätte sie nächtelang nicht mehr richtig geschlafen. »Du weißt es nicht«, beantwortete Hatasu ihre Frage selbst. »Du hast nicht die geringste Ahnung, Priester der Großen Mutter! Und es interessiert dich nicht einmal besonders, so tief bist du in dein eigenes Leid verstrickt. Die Leute beginnen zu zweifeln, Asterios! Wie lange sollen sie noch in den Höhlen ausharren? Was wird passieren? Und vor allem wann? Das wollen sie alle von dir wissen, aber keiner von ihnen wagt, dich offen zu fragen. Stattdessen kommen sie zu mir, einer nach dem anderen, und lassen sich aufmuntern. Woher soll ich die Kraft nehmen für soviele?«
Er starrte sie an. Sie war so tapfer, stark und mutig und voller Mitgefühl! Eine Frau, wie er sie sich immer gewünscht hatte. Eine Brücke, die trug. Er liebte sie. Er hatte sie schon seit langem geliebt.
»Manchmal wünsche ich mir sogar, daß es ganz schnell geht«, fuhr sie halblaut fort, »wenn wir schon sterben müssen. Das ist immer noch besser als diese nervenzerrende Warterei.«
»Du mußt nicht länger warten!« Asterios schrie beinahe. »Dreh dich um und schau auf die Schultern des jungen Mannes hinter dir!«
Sie gehorchte. »Sie sind ja ganz schwarz«, sagte sie. »Wieso in aller Welt sind sie schwarz?« Hatasu strich prüfend mit dem Finger darüber. »Es fühlt sich an wie warme Asche.«
»Es ist Asche«,
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