Palast der blauen Delphine
spüren, wenngleich ich auch noch nicht genau weiß, was es ist. Hat Merope dich mit den alten Legenden vertraut gemacht?«
»Sie hat mir vieles erzählt«, antwortete er vorsichtig.
»Dann kennst du auch die Prophezeiung über den Lilienprinzen.«
»Es heißt, in der Stunde der Not werde er kommen, um die Insel zu retten. Ein Priester der Großen Mutter«, begann er zögernd.
»Ja, ein Priester!« unterbrach sie ihn. » Ein Mann, gezeugt in der Heiligen Hochzeit der Hohepriesterin mit dem Weißen Stier aus dem Meer.«
Wortlos starrte er sie an.
»Verstehst du jetzt, mein Sohn?« beschwor sie ihn, und er wußte, daß es keine Wahl für ihn gab. »Du bist dieser Geweissagte! Die Weisen Frauen haben beschlossen, daß du zum Priester der Göttin geweiht werden sollst. Du wirst der erste Mann sein, der Ihr in diesem hohen Amt dienen darf! Deshalb mußt du so schnell wie möglich zum Eingeweihten werden. Ich weiß, der Zyklus der Mysten ist bereits fortgeschritten, und du wirst vieles in kurzer Zeit nachholen müssen. Aber das ist nicht weiter schwierig für den Sohn Pasiphaës, nicht wahr?«
Wenige Tage später traf er auf die anderen. Insgesamt waren sie mehr als dreißig, neben den vierzehn Knaben und Mädchen aus Athenai achtzehn junge Kreterinnen und Kreter, die nach ihrer Anfangszeit in Mallia nun teils in Phaistos, teils in Knossos unterrichtet wurden. Asterios hatte seine Mutter gebeten, weiterhin in seinen Räumen wohnen zu dürfen. Aiakos protestierte sofort gegen diese Sonderbehandlung. Persönliche Gefühle rechtfertigten in seinen Augen keine Sonderbehandlung. Erst nachdem Pasiphaë sich eingesetzt hatte, war der Lehrer zum Nachgeben bereit gewesen.
Trotzdem wußte Asterios, daß seine Tage im Palast gezählt waren. Dann würde auch er in die flachen Bauten außerhalb der Palastanlage umziehen müssen, die die Mysten beherbergten. Unbemerkt Kontakt mit Ariadne aufzunehmen, war dann beinahe unmöglich.
Seit jeher führte der Einweihungsweg die Mysten durch die vier Elemente, aus denen nach kretischem Glauben die Große Mutter die Gesamtheit der Schöpfung gebildet hatte. Jeder Initiand wurde in überlieferten Ritualen mit Wasser, Erde, Luft und Feuer konfrontiert. Der Weg der vier Stufen zur Erkenntnis war exakt festgelegt; Abweichungen waren verboten. Ein Weiterkommen von einer Stufe zur nächsten war nur nach gründlicher Vorbereitung möglich. Die geistigen und körperlichen Übungen, denen die Heranwachsenden unterzogen wurden, dienten dem schrittweisen Zugang zu diesen Urkräften.
Daneben gab es noch den täglichen Unterricht, der die Mädchen und Jungen dazu anhielt, sich auf praktische Weise der Möglichkeiten und Segnungen des jeweiligen Elements zu bedienen. Freilich wurde auch und gerade in diesem Bereich reichlich geübt. Asterios, der viel später als die anderen dazugekommen war, mußte sich anstrengen und hatte daher kaum noch Zeit, auf mögliche Begegnungen mit Ariadne zu lauern.
Schon nach dem Morgengebet begann das Lauftraining, gefolgt von Dehn- und Streckübungen, um den Körper geschmeidig zu machen. Danach dauerte das akrobatische Turnen in der Regel bis zum Mittag. Die Nachmittage, über die die anderen frei verfügen konnten, verbrachte Asterios in der Gesellschaft seiner Privatlehrer, Kapitän Kephalos’ und Panebs. Letzterer stammte aus Oberägypten und war, obwohl erst dreißig Jahre alt, schon ein erfahrener Schiffsbauer.
Während die anderen schwimmen oder segeln gingen, quälte Asterios sich damit ab, die verschiedenen Segelknoten auseinanderzuhalten oder die geeigneten Hölzer für den Bau einer Kymbe oder des schlankeren Gaulos zu bestimmen. Neben Schiffskunde, Wetterbeobachtungen und kartographischen Studien wurden Navigation und Astronomie gelehrt, und er wiederholte mit seinen Lehrern Namen und Erscheinungsformen der Sternbilder, in denen ihn früher bereits Merope unterwiesen hatte.
Nach einiger Zeit wurde dieser theoretische Unterricht durch praktische Anschauung ergänzt. Wiederholt nahm Paneb ihn mit nach Kommos, wo während der Sommermonate ein Teil der königlichen Flotte ankerte. Dort hatten sich auch einige der wichtigsten Werften angesiedelt. Keine andere Stadt an der Südküste verfügte über besser geschützte Buchten. Der Hafen lag an der Mündung des gleichnamigen Flusses, gute Gelegenheit für Seeleute, ihre Süßwasservorräte zu erneuern, während in den Trokkendocks die Schiffe repariert und überholt wurden.
Nachdem Asterios zunächst
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