Palast der blauen Delphine
wieder in seine Räume. Dann lag er stundenlang auf dem Bett, starrte zur Decke und grübelte. War die Hitze des Mittags abgeklungen, zog es ihn manchmal zu der ausladenden Platane, die am Rand des Gartens stand. Aber selbst hier, im warmen Gras, fand er keine Ruhe.
Verschiedentlich schon hatte er nach der Geliebten gefragt, die plötzlich seine Schwester sein sollte, vorsichtig, voller Angst, er könne sich verraten. Aber er hatte nichts erfahren. Ariadne fühle sich unwohl, hatte Deukalions lakonische Antwort gelautet, und werde von Mirtho gepflegt, und bei Pasiphaë wagte er sich nicht zu erkundigen. Die Furcht, sie könne mit ihrem forschenden Blick bis in sein aufgewühltes Inneres schauen, hielt ihn zurück. Eine dichte, undurchdringliche Mauer des Schweigens schien um Ariadne errichtet.
Der einzige, zu dem er so etwas wie Nähe und Zuneigung empfand, konnte ihm auch nicht weiterhelfen. Ikaros hatte ihn unter der Platane aufgespürt und in ein Gespräch verwickelt. Plötzlich, fern der Tafel, der Musik und der vielen Menschen, hatte Asterios gespürt, wie einsam er sich fühlte. Dankbar antwortete er dem blassen, schwarzhaarigen Mann und wagte endlich, ihm die einzige Frage zu stellen, die ihn bewegte.
»Ariadne? Ich habe sie schon seit längerem nicht gesehen.« Ikaros zog überrascht die feingezeichneten Brauen hoch. »Heißt es nicht, sie habe sich beim Üben überanstrengt? Frag Mirtho, wenn du etwas erfahren willst. Sie ist die einzige, die über alles Bescheid weiß.«
Seitdem verspürte Asterios ein warmes, freundliches Gefühl, wann immer er ihm in der Palastanlage begegnete, und hörte gerne zu, wenn er mit glänzenden Augen von seinen Naturbeobachtungen erzählte. Von seinem Vater Daidalos hatte er die Freude am Forschen geerbt. Während jener sich aber vor allem der Baukunst und Metallurgie verschrieben hatte, galt die Liebe des Sohnes der beseelten Natur. Er wußte Bescheid über jeden Baum, jede Pflanzenart, beobachtete und katalogisierte die Tiere, die auf der Insel heimisch waren. Ständig brachte er neue Beute von seinen Streifzügen mit, bunte Federn, ein Stück Schlangenhaut, gesprenkelte Vogeleier, die wie metallisch glänzten. Stunden konnte er damit verbringen, Insektenvölker zu belauschen oder, in einer Sandmulde versteckt, dem Ausschlüpfen der Meeresschildkröten zuzusehen. Mit seiner hellen, ein wenig nasalen Stimme zog er Asterios in seinen Bann und brachte ihn dazu, für Augenblicke seine Sorgen zu vergessen. Erst wenn seine schmale, leicht gebückte Gestalt mit den vielen Taschen und Sammelgefäßen in einem der langen Korridore verschwunden war, fing Asterios erneut zu grübeln an.
Als seine Schlaflosigkeit ihren Höhepunkt erreicht und er zwei Nächte hellwach auf der Veranda verbracht hatte, ließ Pasiphaë ihn rufen. Es war das erstemal, daß sie ihn in ihr Megaron bestellte, und er konnte vor Aufregung kaum atmen. Befangen nahm er ihr gegenüber Platz und wartete, bis sie das Wort ergriff. Pasiphaë trug Ocker, eine Farbe, die ihre Haut leuchten ließ. Sie schien sehr bewegt.
»Wir haben wichtige Dinge zu entscheiden, Asterios. Es geht um deine Zukunft. Ein Thema, das offenbar auch Minos beschäftigt.«
Sie lachte wie ein junges Mädchen, und zum erstenmal meinte Asterios, Spuren von Ariadnes Zügen in ihrem Gesicht zu erkennen. Unwillkürlich verkrampfte er sich. Pasiphaë mißdeutete seinen besorgten Blick.
»Hab keine Angst, mein Sohn! Glaubst du denn, ich würde dich ihm überlassen? Noch weiß ich nicht, was er vorhat. Aber wir werden schneller sein als er.«
»Ich weiß nicht, was werden soll«, murmelte Asterios. »Manchmal wünschte ich, ich wäre nie gekommen.«
»Das darfst du nicht einmal denken!« rief Pasiphaë erregt. »Nie wieder will ich solche Worte von dir hören!« Sie bemerkte seine unglückliche Miene und wurde sanfter. »Ich weiß, daß es hier für dich nicht einfach ist. Der Palast, die vielen Menschen, eine Menge ungewohnter Regeln, die du befolgen mußt – alles ist ganz anders als in deinem bisherigen Leben.« Bevor er etwas einwenden konnte, sprach sie rasch weiter. »Du mußt aber auch unsere Hilfe annehmen, Mirthos, meine und die deiner Geschwister, und darfst dich nicht verschließen wie ein trotziges Kind! Und du mußt lernen, dich schnell zurechtzufinden.«
Er sah sie fragend an.
Pasiphaë senkte ihre Stimme zu bedeutungsvollem Flüstern. »Hör mir zu, Asterios! Kreta droht Gefahr. Große Gefahr! Ich kann es ganz deutlich
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