Palast der blauen Delphine
staunend zugesehen hatte, wie der schlanke Rumpf eines Zweibeinmasters in verschiedenen Arbeitsgängen entstand, lernte er, zusammen mit einer Gruppe von Zimmerleuten, abschnittsweise die Verschalung mit Tauen zu befestigen.
Nach diesen langen, arbeitsreichen Tagen zwischen Zedernbalken und Spänen, umgeben von Äxten, Sägen, Knochenleim und Grasbündeln, war er müde und hungrig, aber zufrieden. Unter den Handwerkern fühlte er sich heimischer als im Palast und war wegen seiner Geschicklichkeit bei vielen beliebt. Auch seine Lehrer waren stolz auf seine Fortschritte, und Pasiphaë ließ keine Gelegenheit aus, sich danach zu erkundigen.
Selbst Minos schien sich sehr für Asterios zu interessieren und platzte öfters mitten in den Unterricht. Unter dem stechenden Blick des Königs fühlte Asterios sich unbehaglich. Merkwürdigerweise aber behandelte Minos ihn mit herablassender Freundlichkeit, und manchmal schien er sogar darüber erfreut, wie schlagfertig Asterios seine Fragen beantwortete.
Von Ausnahmen abgesehen, war der Abend zunächst der Anbetung der Großen Mutter vorbehalten. Nachdem sich die Mädchen und Jungen gereinigt und frische Leinengewänder angezogen hatten, versammelten sie sich in der Dämmerung zum Klang von Flöte und Tympanon im Freien. Einige Male führte Pasiphaë persönlich sie zum Olivenhain hinauf, meistens aber überließ sie zwei jüngeren Priesterinnen diese Aufgabe.
Die Mädchen und Jungen bildeten zwei Kreise, die erst getrennt voneinander schritten, sich dann kreuzten und schließlich zu einer Schleife ineinander verwoben. Das anfängliche Wiegen und Schaukeln der Körper zu einem sanft pulsierenden Rhythmus wich allmählich heftigeren Bewegungen. Angespornt vom immer drängenderen Lied der Instrumente, lösten sich die Hände voneinander, und jeder fand seinen eigenen Takt. Arme flogen nach oben, Füße stampften kräftig. Manche drehten sich wie Kreisel, während andere übermütige Sprünge wagten.
Nach einer Weile verstummte die Musik, und die Mysten legten sich auf den Boden. Erst nachdem sich ihr Atem wieder beruhigt hatte und ihre erhitzten Körper durch den dünnen Stoff die Erde spürten, in der die Wärme eines Sonnentags gespeichert war, begann einer von ihnen laut zu beten.
Als Asterios zum erstenmal an die Reihe kam, zögerte er, die heiligen Worte zu sprechen. Von Kindheit an hatte Merope ihn Ehrfurcht vor der Allmächtigen gelehrt, die alles erschaffen hatte. Seine Gebete zu Ihr hatte er meist stumm verrichtet, manchmal auch halblaut in der Gegenwart seiner Ziehmutter. Nun aber sollte er sie vor den anderen sprechen. In der Stille hörte er das Pochen seines Herzens, das ihm lauter schien als der Trommelschlag zuvor.
»Mutter der abertausend Namen«, fing er stockend an, »große Gebärerin, die alles hervorbringt! Noch niemals hat ein Sterblicher Dein Gewand enthüllt. Herrin des Universums, Du bist die, in der sich die Fäden der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft berühren. Heil Dir, Große Göttin, die Du im Sichtbaren und Unsichtbaren zweifach verborgen bist! Du bist die Mutter der Gesänge und Tänze, die Spenderin des Lebens. Mutter des Donners, des Regens und der Flüsse, Du läßt die Bäche rinnen durch die Täler. Sie tränken die Tiere auf dem Feld, und an ihren Ufern wohnen die Vögel, die unter Deinem Himmel fliegen. Du bist die Mutter der Welt und unserer älteren Brüder, der Steine.«
Der Abend hatte sich über den Hain gesenkt, und als er in seinem Gebet innehielt und die Augen öffnete, schien es ihm, als seien die Liegenden um ihn ganz mit dem Boden verwachsen.
»Du bist die Mutter der Bäume, der Tiere und aller Menschen«, fuhr er ruhiger fort. »Heilige Mutter der Berge, nimm uns auf in Deinen schöpferischen Schoß, dem alles entströmt. Laß uns umfangen sein von Deinen Geheimnissen! Gib, daß wir wurzeln in Deinem Boden! Schenke der Erde Deinen Segen, laß sie reich und fruchtbar sein!«
Lange blieb alles still. Dann erhoben sich die ersten langsam. Schließlich traten alle gemeinsam den Rückweg an.
Asterios nutzte die Gelegenheit, um unbemerkt in den Palast zurückzukehren. Die Worte der Anrufung schwangen in ihm nach, aber sie machten ihn nicht ruhig, sondern bedrückten ihn. Angesichts der vielfach beschworenen Allgegenwart der Göttin fühlte er sich schwach und mutlos wie selten zuvor. Verzweifelt dachte er an Ariadne und versuchte, sich die Begegnungen mit ihr ins Gedächtnis zurückzurufen. Aber seine Erinnerung
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