Palast der blauen Delphine
blieb blaß und unbestimmt.
Am folgenden Tag, als der Palast in schläfriger Mittagsruhe lag, machte sich Asterios auf die Suche nach Mirtho. Da er sie nicht in ihren Gemächern im Nordtrakt fand, ging er ins Heiligtum im südlichen Flügel. Aber auch die drei ineinander übergehenden Räume waren leer. Blaue Gazetücher vor den Fenstern brachen das helle Tageslicht zu milchigem Blau.
Er starrte auf den rötlichen Steinaltar, auf die dunklen Holzbänke und die Doppeltüren des heiligen Schreins, der nur bei Ritualen geöffnet wurde. Noch am Morgen hatte hier offenbar eine Zeremonie stattgefunden. Dem Räuchergefäß entströmte noch immer zartes Wacholderaroma.
Enttäuscht verließ er den geweihten Raum und stieg langsam die Treppen zum Piano nobile empor. Leises Rufen drang an sein Ohr. Asterios blieb stehen und trat dann hinaus auf die oberste Stufenreihe des Theaterhofs.
Ganz unten, im Halbrund, das sich an die steil ansteigenden Stufen anschloß, entdeckte er Mirtho. Ihr dunkles Gewand zeichnete sich scharf vom Weiß der Steine ab. Langsam stieg er zu ihr hinunter. Aus der Nähe sah er, daß sie ihr Haar in der Mitte gescheitelt und in viele dünne Zöpfe geflochten trug; silberne Spiralen baumelten an ihren Ohren. Dunkel, fast schwarz lagen die Augen in ihren Höhlen. Sie sah ihm regungslos entgegen.
»Du bist meine letzte Hoffnung«, sagte er gepreßt. »Ikaros hat mich zu dir geschickt. Ich muß endlich wissen, wie es Ariadne geht.«
Ihre Miene blieb unverändert. »Ariadne ist krank. Ich kann niemanden zu ihr lassen. Auch dich nicht. Mehr kann ich dir nicht sagen.«
»Du würdest deine Meinung ändern, wenn du wüßtest, was geschehen ist«, brach es aus ihm heraus. Er schwankte zwischen dem Wunsch wegzulaufen und der Versuchung, ihr alles zu erzählen.
»Ich weiß.«
Überrascht sah er sie an.
»Ich weiß«, wiederholte sie. »Ich habe alles kommen sehen. Und mehr als das, ich kenne die Geschichte, von Anfang an. Sei gegrüßt, Asterios, Sohn meiner Schwester Merope!« Mit sehnigen Armen umfing sie ihn. Nach einer Weile ließ sie ihn wieder los. »Ich war dabei, als du geboren wurdest.«
Allmählich nur drangen ihre Worte zu ihm durch. Es war seine Geschichte, die sie ihm erzählte.
»Wir nahmen den Weg über die Berge, um die Häscher des Königs in die Irre zu führen. Nur eine Zuflucht war uns noch geblieben: meine Schwester Merope. Doch die Wehen setzten zu früh ein.«
Asterios begann heftig zu atmen, und sein Gesicht verzerrte sich. Er wand sich und drückte beide Hände an seinen Leib. Sein Körper schien sich zusammenziehen und dehnte sich im gleichen Augenblick aus, als wolle er die ganze Szene umfangen.
Dann überflutete ihn der Strom der Bilder.
Ein stechendes Ziehen zerreißt ihr den Leib. Sie kann nicht mehr reiten, ist unfähig, länger zu sitzen. Es wird naß zwischen ihren Schenkeln. Jetzt kommen die Schmerzen in Wellen, hoch und immer höher, schwappen über sie hinweg und drücken sie fest auf den harten Boden.
Nach einer Ewigkeit wird das Kind geboren. Sie hört noch die besorgten Stimmen der Frauen. Dann verliert Pasiphaë die Besinnung …
Er weinte.
»Du kannst sehen «, sagte Mirtho bewegt und lächelte ihn an. »Ich wußte es: Du kannst sehen!«
»Ich weiß nicht«, flüsterte er.
»Doch!« triumphierend erhob sie ihre Stimme. »Du siehst! Das ist die Aufgabe, die die Große Mutter dir zugewiesen hat.«
»Nein!« gellte sein Schrei im leeren Halbrund. »Nein! Nicht ich!«
»Asterios, Sohn der Göttin und des Weißen Stiers aus dem Meer, du besitzt die Gabe des Sehens! Du verfügst über das göttliche Geschenk und wolltest trotzdem nicht erkennen, daß Ariadne deine Schwester ist.«
»Ich hatte keine Ahnung!« protestierte er.
Ein weißer Blitz. Geblendet schloß er seine Augen, riß sie entsetzt wieder auf.
Überall Schwärze.
»Große Göttin, ich bin blind!« In Panik streckte er die Arme aus, um Halt zu finden.
»Ohne Schuld bist du, wenn du dich schuldlos fühlst; schuldbeladen, wenn du selbst an dein Vergehen glaubst«, hörte er Mirtho wie aus weiter Ferne sagen. »Hör auf, dich zu quälen, Asterios! Dein Schicksal ist von der Großen Mutter vorbestimmt. Sei dankbar für das, was du erleben darfst! Nimm deine Aufgabe an!«
Ihre Finger berührten ihn sanft zwischen den Brauen.
»Noch kann ich dir Mut machen«, murmelte sie besänftigend. »Dir sind Dinge auferlegt, wie noch keinem Mann zuvor. Bald schon wird deine Kraft so groß sein, daß
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