Palast der blauen Delphine
bitten.
Tief aufatmend trat Asterios hinaus in die sternenklare Nacht. Er wußte, er würde noch nicht schlafen können. Unwillkürlich zog es ihn zum Westtrakt des Palastes, wo nahe den Werkstätten Ikaros mit seinem Vater in einer großzügigen Villa wohnte.
Die Mondbarke lag zwischen den Spitzen des felsigen Doppelhorns, das sich scharf gegen den Himmel abhob. Das Haus war dunkel. Kein Feuerschein, kein Geräusch verrieten, ob der Freund noch wach war. Zaghaft klopfte Asterios an.
»Ich ahnte, daß du kommen würdest«, sagte Ikaros, nachdem sie sich begrüßt hatten. Der Kamin war kalt und das Zimmer unaufgeräumt, als habe er es in großer Eile verlassen. Auf dem Tisch aus robustem Olivenholz lagen verschiedene Rindenstücke, Moosballen und Teile einer Bienenwabe, Gegenstände, wie sie Ikaros ständig von seinen Spaziergängen mitbrachte.
»Komm, setz dich«, forderte er Asterios auf. »Wie fühlst du dich vor dem großen Ereignis? Du siehst bedrückt aus.«
»Eigentlich sollte ich jetzt die Göttin um Ihren Beistand anflehen«, antwortete Asterios, und es klang bitter. Auf einmal konnte er nicht mehr in Worte fassen, was ihn hierhergetrieben hatte.
Ikaros sah ihn kurz an, bevor er eine weitere Lampe mit Öl füllte und sie entzündete. »Höre ich da etwa Überdruß heraus? Und das von dir?«
»Alles ist so seltsam heute«, sagte Asterios ausweichend. »Aiakos hat eine lange Rede gehalten, die uns wohl beruhigen sollte. Mich hat sie eher konfus gemacht. Dauernd hat er von der Erde gesprochen, die wir überwinden sollen. Manchmal weiß ich nicht mehr, was ich überhaupt noch glauben soll. Der Großen Mutter bin ich in den Bergen näher gewesen als hier.«
»Was siehst du hier?« Ikaros war aufgestanden und hielt ihm eine der Moosflechten entgegen. »Ein Stückchen Boden, in dem doch alles Leben steckt! Verstehst du, Asterios? Die Kreter beten zur Göttin, während die Menschen in Athenai den Gott Zeus anflehen. Gott oder Göttin – welche Rolle spielt das schon? Ist nicht alles göttlich, was um uns herum ist? Tiere, Pflanzen, sogar jeder Stein? Und ist es nicht unsere Aufgabe als Menschen, im Bewußtsein dieses Wissens zu leben?«
»Ich weiß nicht, ob das auch für mich gilt«, erwiderte Asterios traurig. »Ich bin nicht wie alle anderen.«
»Was soll das heißen?« fragte Ikaros. »Was meinst du damit?«
»Ich kann Dinge sehen, die noch nicht geschehen sind«, sagte Asterios vorsichtig. »Ereignisse, die in der Zukunft liegen.«
»Willst du damit sagen, daß du die Gabe des Sehens besitzt?« Ikaros’ Stimme klang überrascht.
»Ja«, nickte der andere. »So nennt man es wohl. Mirtho sagte mir, die Große Mutter habe mich damit ausgezeichnet. Aber ich weiß nicht recht. Einmal hat die Göttin direkt zu mir gesprochen, in der Großen Höhle, und ich habe viele Ihrer Gestalten gesehen. Seitdem nie wieder. Ich wünschte, ich könnte Sie wieder spüren wie damals. Dann würde ich mich sicherer fühlen.«
»Das Göttliche ist überall«, sagte Ikaros. »Es ist einfach da, Asterios, wie eine große, fruchtbare Welle, die sich stets wieder selbst gebiert. Es ist gleichgültig, ob wir es begreifen oder nicht. Am Ende wird alles wieder eins, kehrt in sich selbst zurück, egal, was wir tun oder lassen.«
Beide schwiegen eine Weile. »Es klingt nicht so, als würden deine Erkenntnisse dich besonders glücklich machen«, sagte Asterios schließlich. »Mir sind es zu viele Worte. Für mich bedeuten Glauben und Vertrauen etwas anderes.«
Abrupt erhob er sich. Den Ausdruck in Ikaros’ Augen wußte er nicht zu deuten, aber er machte ihn stutzig. Der Freund sah einsam und verloren aus. Plötzlich bereute er, daß er so hereingeplatzt war, und fühlte sich wie ein Eindringling.
»Ich muß jetzt gehen«, stieß er verlegen hervor. »Denk an mich, wenn ich morgen springe, Ikaros! Bete für mich.«
»Das werde ich tun«, sagte dieser schlicht.
»Bete für mich, Mirtho. Ich habe Angst.« Im Schein der Kerzen wirkte Ariadnes Gesicht jung und wehrlos.
Ich weiß, daß du Angst hast, dachte Mirtho. Du fürchtest dich vor den körperlichen Schmerzen, die dir bevorstehen. Mehr aber noch vor den seelischen, mit denen du fertig werden mußt.
Schweigend sahen sie sich an, die alte Frau und das Mädchen, das sich auf der lederbespannten Bettstatt ausgestreckt hatte. Das Fenster war leicht geöffnet; träge umschwirrten Insekten die Öllampe auf dem Ebenholztischchen.
»Noch ist Zeit«, begann sie behutsam. »Noch
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